Читать книгу Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren - Martina E. Siems-Dahle - Страница 20

Die „normalen“ Zeiten meiner Eltern und Großeltern Aufarbeitung auf ganz eigenwillige Art

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An einem Sonntag im Spätsommer 2011 fuhr ich zu einem Seniorenheim in Bonn. Zum Thema “Kriegsaufbereitung, Kinder und Enkel der Kriegsgeneration lesen ihre Texte“ hatte Monika geladen, Mitte Fünfzig, edler Ökolook, rötliche, streichholzkurze Haare, schwarzes Brillengestell. Acht ihrer Schüler und Schülerinnen hatten unter ihrer professionellen Motivations- und Anleitungstechnik Kriegs- und Nachkriegsauswirkungen schriftlich aufgearbeitet.

Ich durchquerte eine großzügige, feudal eingerichtete Eingangshalle und nahm einen der vielen Fahrstühle. Im ersten Stock angekommen, schritt ich rechts den Gang hinunter über weiche, hell gemusterte Auslegeware.

„Guten Abend“, wünschte ich, erhielt aber keine Antwort.

Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Zuschauer da saßen, aber es mögen wohl acht gewesen sein. Die Reihenbestuhlung bot Platz für geschätzte fünfzig. Vor dem Publikum saßen marionettengleich Monikas Autoren und Autorinnen. Zwischen ihnen war ein beiger Lederohrensessel platziert, neben ihm stand eine Stehlampe, davor ein kleiner Couchtisch, der dekoriert war mit einem Blümchen und einem wie zufällig dahin drapierten roten Tuch. Von der Zuschauerseite links gesehen stand ein Rednerpult. Der Raum füllte sich nur spärlich.

„Schade“, dachte ich, „das Thema müsste doch gerade für die Einwohner dieses Hauses von Interesse sein.“

Unter den Schüler- und Schülerinnen muss man sich Frauen und Männer vorstellen, die zum großen Teil auch schon die Rente anstrebten oder sogar schon erreicht hatten. Sie waren Kinder der Kriegsgeneration. Die drei Enkelinnen, die ebenfalls lesen sollten, waren zwischen Vierzig und Fünfzig.

Ich setzte mich in die dritte Reihe von vorne, direkt an den Mittelgang. Ein Herr, ganz offensichtlich ein Mitbewohner der Seniorenresidenz, betrat den Saal. Er schlurfte bis zu meiner Reihe. Er bog ein und schob sich zu mir hin, die ich dort schon saß, und wollte an mir vorbei. Warum er nicht durch die vielen freien Reihen ging, war mir nicht klar.

„Machen Sie doch Platz!“

Diese Aufforderung genügte mir um zu wissen, der Herr ist schlecht drauf, lieber nichts sagen. Ich stand auf, trat in den Gang, er trat auch in den Gang, um sich genau auf den Stuhl vor mich zu setzen. Ich setzte mich wieder. Er drehte sich zu mir um.

„Was ist das denn hier?“

„Eine Lesung.“

„Eine was?“ Das war sehr laut gefragt.

„Eine Lesung, die Herrschaften da vorne lesen gleich Texte.“

Noch lauter: „Was?“

Ich wiederholte meine Antwort in angemessener Lautstärke für Menschen seines Alters.

„Worum geht es denn?“

„Das wird uns gleich die Veranstalterin sagen, die da vorne sitzt.“

„So.“

Er war adrett gekleidet, in grau-beiger Bügelfaltenhose, weißes Oberhemd mit einer beigen Strickjacke darüber. Der Herr, bestimmt Mitte achtzig, war hager, sein Gesicht schmal, aus dem eine gebogene, schmale Nase hervor stach. Das Haar schütter, Ursprungsfarbe nicht mehr zu erkennen.

Wir warteten, mittlerweile um die fünfzehn Zuhörer, auf den Beginn der Lesung. Der alte Herr stand auf, umging die vorderen Stuhlreihen, blieb kurz vor den Akteuren stehen, kehrte zurück und setzte sich in die Reihe hinter mir zu zwei älteren Damen.

„Was wollen die alle hier“, fragte er.

„Die wollen vorlesen.“

„Ja. Weiß ich. Wollen die denn alle lesen? Das ist ja schrecklich. Aber ich kann ja früher gehen.“

Der Herr verließ den Saal nach zehn Minuten und zwei Vorträgen über Erinnerungen und Belastungen. Nach weiteren zehn Minuten und drei vorgelesenen Texten kam er wieder. Schlurfte dieses Mal bis zur ersten Reihe und setzte sich auf den ersten Platz, einen halben Meter vom Rednerpult entfernt.

Die Stimmung im Raum war allein schon wegen des Themas gedämpft, die Luft stickig. Die Essays und Gedichte waren schwermütig. Viele der Autoren und Autorinnen beklagten das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern. Es lag ein Trauerflor über diesem Veranstaltungsraum für Senioren. Dann trat ein Autor an das Pult, ein großer, schlanker Mann, Mitte Fünfzig. „Mohnkuchen“ hieß sein Thema, er erzählte von seinen Erinnerungen an seine Mutter, an ihre Küche, an die Stille, das Schweigen, an die Heimat…

„Alles Scheiße. Alles Scheiße.“ Der alte Mann in der ersten Reihe stand auf und ging.


Ich hatte wenig Bedürfnis gehabt, meine Eltern auszuhorchen, wie „es denn im Krieg so war“. Die Stationen meines Vaters, die er während des Kriegs durchlaufen hatte, kannte ich einigermaßen. Manchmal erzählte er heitere Anekdoten, die von Zwischenmenschlichem unter den Soldaten handelten. Er erzählte ein wenig von seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft. Traumatisiert kam er mir nie vor. Aus meiner Sicht gab es kein Schweigen, sondern nur ein Nicht-Erzählen, weil es offensichtlich nichts Erzählenswertes gab.

Dachte ich.

Der einzige, der eine Art familiäres schlechtes Gewissen in mir auslöste, war mein Großvater väterlicherseits. Als Verwaltungsdirektor der Heil- und Pflegeanstalt in Wehnen konnte man mutmaßen, dass sein Umgang mit den Kranken dem Gedankengut der Nazis entsprochen hatte. Diesem Thema widmet sich Privatdozent Dr. Ingo Harms von der Oldenburger Universität wissenschaftlich in dem Buch „Wat möt wir hier smaachten“ (Was müssen wir hier hungern).

Als Enkelin kann und mag ich das überhaupt nicht kommentieren, ich könnte nur spekulieren, was ich nicht möchte. Einige Briefe an meinen Vater scheinen Hinweise zu geben, sind aber auch durchaus nicht eindeutig interpretierbar, ob auch er der damals gängigen Einstellung gegenüber Behinderten anhing:


Wehnen, Dienstag, den 4.November 1941

Mein lieber Hans-Jürgen!

(…) Meine weiteren Sorgen verursachen mir die Anstalt. Du kannst mir glauben, mein lieber Hans-Jürgen, es ist heute sehr schwer, einen solch umfangreichen Betrieb, der mit rund 900 Menschen versorgt sein will, verantwortlich zu leiten. Hinzu kommt, daß Anstalten unserer Art sowieso erst in jeder Hinsicht zuletzt kommen, was übrigens durchaus richtig ist. Aber für den, der trotzdem den Betrieb durchbringen soll, ist das eine undankbare Sache. (…) Dein Vater

Sonntag, den 20.8.44

Mein lieber Hans-Jürgen!

(…) Immer wieder werde ich von dem Chefarzt oder von anderer Seite in Anspruch genommen. Durch die Hierherverlegung von 300 lazarettkranken Soldaten aus dem Osten gibt es doch eine Menge Mehrarbeit für mich. Trotzdem freue ich mich, demnächst etwas für unsere Verwundeten tun zu können. Was mich betrifft, sollen die Soldaten es in Wehnen gut haben, das kannst Du mir glauben. Ich habe immerhin einen entscheidenden Einfluß auf die Verpflegung. Außerdem habe ich gestern zur Sprache gebracht, den Soldaten die modernen F=Häuser zur Verfügung zu stellen, die ja eine moderne Warmwasserversorgung haben. Der Chefarzt des Lazaretts war schon einige Male bei mir. Er ist Ob. Stabsarzt Dr. Ochs. Außer ihm kommen noch zwei Militärärzte, 20 Rote Kreuz Schwestern und 20 Mann Sanitätspersonal. Die Sache wird also ziemlich groß. Die Versorgung mit allen Lebensnotwendigkeiten außer den Medikamenten und den ärztlichen Apparaten habe ich für das Lazarett z u s ä t z l i c h zu übernehmen. Ich tue es sehr gerne, und wenn ich soviel zu tun kriege, daß auch ich von einem totalen Kriegseinsatz sprechen kann.

(…) Es fehlt uns an nichts. Daß Mutti immer alle Hände voll zu tun hat, brauche ich Dir nicht extra mitzuteilen. Immer sorgt sie dafür, daß wir so gerne nach Hause gehen; immer weiß sie etwas Neues auf den Tisch zu stellen, was auch ein Leckermaul ergötzen könnte. Dein Vater

Und so hat es mein Vater, der spätere Lehrer, in einem Brief an seinen jüngeren Bruder formuliert:

Freitag, den 25.8.44

Lieber Enno,

Ich kann mir gut vorstellen, dass es mit dem Anstaltsbetrieb mehr als genug zu tun gibt, besonders wenn die Nächte noch mit Fliegeralarm ausgefüllt sind. Deshalb kann ich mir kaum denken, dass man Vati nach anderswo einsetzen sollte, - es sei denn, dass alle Idioten aus der Welt geschafft würden. – Und dann würde wahrscheinlich aus Wehnen ein Lazarett werden und Vati braucht nicht den Beruf, sondern höchstens die Uniform wechseln. – Noch totaler als total geht’s ja schliesslich nicht. (…) Hans-Jürgen

Einen Mann in der Position meines Großvaters, der deswegen nicht eingezogen wurde, der, wie er nach Kriegsende schrieb, gezwungenermaßen in die N.S.D.A.P. eintreten und Ortsgruppenpropagandaleiter werden musste und gegen Ende auch dem Volkssturm dienen musste, unterwarfen die englischen Alliierten einer sieben Monate dauernden Entnazifizierung in Esterwegen[4]. Offensichtlich war ihm eine Kontaktaufnahme mit seiner Familie untersagt. Es ist mir nicht bekannt, ob ihn nachstehender Brief von meiner Omi erreichte.

Wehnen, den 16.11.45

Mein lieber Heinrich!

(…) Ich möchte so gerne, daß Du wenigstens ein Lebenszeichen von uns erhältst, damit Du weißt, daß es uns gut geht und daß Du Dir unseretwegen keine Sorgen machen brauchst. – Enno ist am 1.Juli, an seinem Geburtstage, zurückgekommen. Er hat noch nördlich Berlin mitgekämpft. Deine Vermutung damals war also richtig. Am 23.April ist er leicht verwundet worden, Granatsplitter im rechten Unterschenkel, ist dann nach Flensburg ins Lazarett gekommen und von dort entlassen worden. (…) Jetzt besucht er wieder die Schule, um im Frühjahr sein Abitur zu machen, da das Notabitur nicht angerechnet wird. Auch Lore geht wieder zur Schule. Beide, Enno und Lore, sind mir in dieser schweren Zeit ein großer Trost und eine gute Stütze gewesen. Von Hans-Jürgen weiß ich, daß er in Riga in einem Kriegsgefangenenlager ist. Ein Soldat aus Petersfehn, der dort mit ihm zusammen war, brachte mir am 27. August die Nachricht. Wenn ich doch nur wüßte, wie es Dir geht? Meine Gedanken sind immer nur bei Dir. Du fehlst mir überall. Nur die Hoffnung, daß wir uns bald wiedersehen, gibt mir immer wieder Mut und Kraft. (…) von Deiner Leni.

Briefe lügen nicht - Wie wir wirklich waren

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