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Alexia und das grüne Kaninchen

„Asabi, Asabi wo bist du? Komm her!“, erklingt Alexias Stimme. Alexia läuft weiter in den Wald hinein und ruft. Ihr Hund kommt nicht. Von Weitem hört sie sein Bellen und sie folgt seiner Stimme.

Als sie an eine Lichtung kommt, sieht sie endlich ihren Hund. Er liegt flach auf den Vorderbeinen, das Hinterteil in Luft gestreckt und starrt bellend auf den Boden.

„Asabi, was machst du denn da?“, ruft Alexia schon aus einiger Entfernung. Ihr Hund lässt sich nicht ablenken.

Als sie näher kommt, sieht Alexia den Bau im Erdboden, der Asabi ganze Aufmerksamkeit gewonnen hat. Im wintergrauen Gras ist ein Loch und ein Gang führt hinab unter die Erde. „Na Asabi, wer wohnt denn da?“, fragt Alexia und streichelt ihrem Hund den Kopf.

In diesem Moment sieht sie etwas Grünes in dem Loch in der Erde, doch eher sie genau hinschauen kann, ist es auch schon wieder verschwunden. Asabi beginnt erneut zu bellen.

„Psst, Asabi, aus, sei doch mal leise“, sagt Alexia zu ihrem Hund. „Hallo, wer da?“, fragt sie und tatsächlich taucht eine kleine, grüne Nasenspitze aus dem Loch auf.

Alexia legt ihren Zeigefinger auf ihren Mund und macht: „Psst, leise Asabi, sonst kommt es nicht raus.“

Asabi folgt ihr und setzt sich mucksmäuschenstill neben sie. Gemeinsam schauen sie gespannt auf den Bau. Die grüne Nasenspitze kommt wieder zum Vorschein. Alexia und Asabi warten mit angehaltenem Atem. Als Nächstes sehen sie zwei blaue Augen, dann zwei lange, grüne Ohren und zwei grüne Pfötchen.

„Oh“, flüstert Alexia. Asabi reckt ihre Schnauze vor und schnüffelt vorsichtig. „Asabi, lass das, es bekommt ja Angst“, sagt Alexia schnell. Jetzt erscheinen zwei weitere Pfoten und ein Stummelschwanz. Vor Alexia und Asabi sitzt tatsächlich ein grasgrünes Kaninchen mit himmelblauen Augen. Ohne nachzudenken, platzt Alexia heraus: „Was bist denn du?“ Das grüne Kaninchen sieht ganz traurig aus, eine Träne glitzert in seinen blauen Augen. „Äh, ich meine, wer bist denn du?“, verbessert sich Alexia schnell.

Zu ihrer großen Überraschung antwortet das grüne Kaninchen: „Nein, nein, du hast ja recht, die Frage muss dir nicht peinlich sein.“

Alexia reißt vor Erstaunen die Augen auf und Asabi macht erschrocken einen Satz rückwärts. „D-d-d-du kannst sprechen?“, stottert Alexia.

„Ja, ich bin grün, ich kann sprechen und ich bin ein Kaninchen“, antwortet das grüne Kaninchen mit leiser Stimme.

„Das ist ungewöhnlich“, stellt Alexia fest. „Sehr ungewöhnlich.“ Alexia hat sich von ihrem Schreck erholt und nun ist ihre Neugier geweckt. „Ich habe noch niemals von grünen, sprechenden Kaninchen gehört, gibt es hier noch mehr von deiner Art?“, fragt sie interessiert.

Das grüne Kaninchen schüttelt den Kopf. „Nein, es gibt nur mich“, flüstert es. „Dann bist du etwas ganz Einzigartiges“, sagt Alexia, die spürt, wie traurig das grüne Kaninchen ist.

Das Kaninchen nickt zögernd.

„Hast du denn auch einen Namen?“, fragt Alexia und fügt hinzu: „Ich heiße Alexia und das hier ist mein Hund Asabi.“

„Einen Namen habe ich eigentlich nicht, ich bin das grüne Kaninchen der Hoffnung“, antwortet das Kaninchen.

„Das grüne Kaninchen der Hoffnung“, sagt Alexia bewundernd. „Das klingt ja ganz wundervoll.“

Jetzt hob das Kaninchen seinen Kopf und stellte die Ohren auf. „Findest du?“, fragte es zweifelnd.

„Ja, aber ganz sicher, erzähl mir doch bitte mehr von dir“, bittet Alexia ganz aufgeregt.

„Das ist schwierig zu erzählen, du würdest mir sicherlich auch nicht glauben“, erwiderte das Kaninchen.

„Ach bitte“, bettelt Alexia.

„Ich könnte es dir zeigen, wenn du mich ein Stück begleitest“, bietet das grüne Kaninchen an.

Alexia zögert einen Augenblick. „Eigentlich darf ich ja mit niemanden mitgehen“, erinnert sie sich an die Ermahnungen ihrer Eltern. „Aber ich habe ja Asabi dabei und was soll mir ein kleines, grünes Kaninchen schon tun?“, verwirft Alexia rasch ihre Bedenken. „Ich gehe gern ein Stück mit dir.“

„Also dann“, sagt das grüne Kaninchen und hoppelt voran.

Alexia folgt ihm und traut ihren Augen nicht, an jeder Stelle an dem die Pfoten des Kaninchens den Boden berührt haben, wächst helles, grünes Gras, an manchen Flecken sprießen sogar Blumen. Asabi, die hinter Alexia hergetrottet ist, schnuppert neugierig an dem frischen Grün.

Nach einer kurzen Weile erreichen die drei einen kleinen See. Obwohl es schon April ist, liegen hier und da noch Schneereste, das Gras ist noch braun vom langen Winter und die Bäume sind noch kahl, ohne jede Spur von Grün. Am Ufer des Sees ist noch vereinzelt eine dünne Eisschicht zu sehen. Das grüne Kaninchen berührt die Bäume und das Seeufer. Die Bäume zeigen in Windeseile Knospen, die als rosa und weiße Blüten aufspringen, das Gras wird grün, Blumen fangen an zu sprießen, öffnen ihre duftenden Blüten. Das Eis schmilzt, Sumpfdotterblumen beginnen am Ufer strahlend gelb zu blühen. Die Seerosenblätter auf dem See zeigen Knospen, die aufspringen und sich in herrliche weiße und pinkfarbene Blüten verwandeln.

Asabi jagt den ersten Bienen hinterher. Alexia vertreibt lachend einen Zitronenfalter von ihrer Nasenspitze. Sie kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie schaut das grüne Kaninchen bewundernd an. „Das ist wirklich zauberhaft“, ruft sie begeistert. Um sie herum ist es plötzlich Frühling. „Du hattest recht“, sagt sie zu dem grünen Kaninchen, „ich hätte dir nicht geglaubt, wenn du es mir erzählt hättest.“ Das Kaninchen nickt.

„Passiert das denn immer, wenn du irgendwo hinkommst? Auch mitten im Winter oder im Sommer? Wird es dann immer Frühling?“, fragt Alexia.

Das Kaninchen schüttelt den Kopf. „Nein“, antwortet es. „Ich bin nur am Ende des Winters unterwegs, dann bringe ich den Tieren und Menschen den Frühling und mit ihm die Hoffnung.“

„Das verstehe ich nicht“, sagt Alexia und runzelt die Stirn. „Warum die Hoffnung?“

„Wenn ein langer, kalter, dunkler Winter zu Ende geht und das junge Grün und die Blumen zurück kommen, dann wissen die Menschen, dass die eisigste Kälte und die finsterste Dunkelheit irgendwann ein Ende haben und das Licht, die Wärme und das Leben immer wieder zurückkehren. Diese Hoffnung in das Leben der Menschen zu tragen ist meine Aufgabe“, erklärt das grüne Kaninchen.

„Das ist eine sehr schöne Aufgabe“, sagt Alexia mit strahlenden Augen. „Jetzt verstehe ich, warum du grün bist. Grün ist die Farbe der Hoffnung. Du musst sehr stolz sein, darum verstehe ich gar nicht, warum du so traurig warst, als wir dich vorhin getroffen haben.“

„Ach“, seufzt das grüne Kaninchen, seine Ohren fallen wieder herunter und sein Kopf senkt sich. „Ich bin halt so anders als alle anderen Kaninchen.“

„Natürlich bist du ganz anders“, tröstet Alexia das Kaninchen und streichelt ihm über das grüne Fell. „Du hast ja auch eine ganz besondere Aufgabe und darum hast du auch ein ganz besonderes Aussehen. Ich finde dich jedenfalls ganz besonders hübsch. Und Grün ist übrigens meine Lieblingsfarbe.“

Da richtet sich das grüne Kaninchen auf und sagt zu Alexia: „Dann will ich dein ganzes Leben in deinem Herzen sein und du wirst niemals die Hoffnung verlieren.“

Silke Wiest wurde am 16.9.1960 in Witten geboren und wohnt in Brombach. Sie studierte Germanistik und Geografie in Mannheim und beschäftigte sich wissenschaftlich mit empirischer Literaturwissenschaft. Außerdem arbeitete sie als freie Texter und Dozentin für Literatur an der VHS. Sie schreibt Lyrik und Prosa, Kurzgeschichten und Märchen für Kinder. Veröffentlicht wurden bisher unter anderen einige Kurzgeschichten in Anthologien.

Wie aus dem Ei gepellt ...

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