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Der fliegende Osterhase

Genervt blickte Iris dem Treiben ihrer Tochter, der fünfjährigen Emma, zu. Sie hüpfte, tanzte und zappelte schon seit dem Mittagessen um sie herum.

„Mami, wann darf ich denn endlich in den Garten? Ich muss doch noch mein Osternest unter dem Baum herrichten, bitte, bitte!“

„Halt dich bloß von meinem Baum fern“, tönte es grimmig von der Eckbank her. Ihr großer Bruder Paul hatte den stämmigen Apfelbaum für sich reserviert.

„Du brauchst dir gar keine Mühe geben.“ Betont ernst schaute Iris ihr quirliges Töchterchen an.

„Aber Mami, der Osterhase weiß doch sonst nicht, wo er all die schönen Leckerli rein tun soll!“

„Dir wird der Osterhase ganz sicher nichts ins Nest legen. Ein Mädchen, das nicht aufräumt, sich vorʼm Zähneputzen drückt und immer Widerworte gibt – nein – dem bringt er ganz sicher nichts.“

Emma lachte hell auf. „Der Osterhase kann das ja gar nicht wissen. Der kann nicht fliegen so wie das Christkind und durch die Fenster schauen.“

„Woher willst du das denn wissen, du Naseweiß. Warte mal ab, er wird es dir schon zeigen.“

Trotzig zog Emma die Unterlippe hoch, eine nachdenkliche Falte grub sich langsam zwischen ihre Augenbrauen, im Bauch machte sich ein eigenartiges Grummeln breit.

Ach was! Sie wollte das Nest noch schöner ausschmücken, dann würde es schon klappen mit dem Osterhasen. Schnell lief sie zu der großen Wiese, um die ersten Feldblumen zu pflücken. Ihre Lieblinge, die leuchtend gelben Himmelschlüsselblumen legte sie als dicken Kranz um das Nest.

Ostersonntag, noch vor dem Frühstück, stürmten Emma und Paul raus, um sich die vollen Osternester zu holen. Vom Apfelbaum kam ein lauter Juchzer. Entgeistert starrte Emma unter ihren Pflaumenbaum. Sie lief zweimal drum herum.

Nichts – absolut Nichts – noch weniger wie Nichts.

Ihr wurde ganz elend zumute. Ein hilfloses Bündel Mensch im zerknautschten Schlafanzug mit verstruwwelten Lockenkopf schaute Hilfe suchend zu ihren Eltern hinüber, die nur mit den Schultern zuckten.

Der kleine Mund bebte, große Kullertränen glänzten in den Augen. Jetzt bloß nicht weinen. „Hätte ich doch nur auf Mami gehört und besser gefolgt“, schluchzt sie lautlos in sich hinein.

Paul konnte dieses zusammengesunkene Häufchen Elend nicht mehr ansehen. Er hatte längst Emmas Nest entdeckt. Langsam ging er von hinten auf sie zu, drehte sacht ihren Kopf leicht rechts und schräg nach oben.

Ihr Mäulchen klappte nach unten doch kein Wort kam über ihre Lippen. Fassungslos schnappe sie nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dort wo die ersten dicken Äste sich gabeln, lag eingebettet ihr blumengeschmücktes Nest.

Ein großer Schokoladenosterhase mit langen Ohren sowie rote, gelbe, blau gepunktete Eier leuchteten von oben herunter. Schließlich stotterte Emma: „A-a-aber wie, wie kommt das denn da oben hin? Ein Hase kann doch nicht fliegen!“

Paul machte ein wichtiges, alles wissendes Gesicht. „Na ja, wenn er seine Ohren als Propeller einsetzt und den Stummelschwanz zur Steuerung benutzt, müsste es klappen. Du weißt doch – alles ist möglich!“ Verschwörerisch schaute er zu den Eltern hinüber.

Er hievte Emma hoch, damit sie endlich ihre Schätze in Empfang nehmen konnte.

„Vielleicht hat es ja etwas geholfen und sie räumt in Zukunft wenigsten ihr Zimmer auf, das wäre schon ein kleiner Fortschritt“, hoffnungsvoll lächelte die Mutter ihren Mann an.

Ingeborg Reichel wurde 1939 geboren. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, drei Enkel und zwei Urenkel. Nach Eintritt in den Vorruhestand war sie auf der Suche nach einem interessanten Hobby. Nach vielem Ausprobieren fand sie im Roda-Literaturkreis „Kreatives Schreiben“ in Herzogenrath genau das Richtige für sich. Hier konnte sie sich viele schmerzliche Erinnerungen von der Seele schreiben.

Wie aus dem Ei gepellt ...

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