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3.) Deutschland – Thesen

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Deutschland ist ein Durchreise- und Einwanderungsland

Die geostrategische Lage gibt – etwas pathetisch formuliert – das Schicksal der Deutschen vor. Sie wohnen in der Mitte eines Kontinents, dessen Bewohner seit Jahrtausenden mobil sind. Händler und Handwerker, Kriegsheere und Elendsflüchtlinge, Heimatvertriebene und Menschen, die ihr Glück gesucht haben, sind durch dieses Land gereist. Manche sind geblieben, haben Familien gegründet, manche haben das Land wieder verlassen. Die germanischen Vorfahren der Deutschen, die vor und während der Völkerwanderung hier hergekommen sind, haben sich auf ihrer langen Reise ethnisch verändert. Sie sind in einer anderen Zusammensetzung angekommen als sie losgegangen sind. Die Deutschen sind immer schon ein Volk gewesen, das wegen seiner Lage in der Mitte Europas „gemischt“ gewesen ist. Die Idee des „reinrassigen Deutschen“ oder der „germanischen Rasse“ ist Blödsinn.

Die „deutsche Frage“ ist Jahrhunderte alt

Deutschland liegt in der Mitte des Kontinents. Durch das Land führen fast alle wichtigen Handelswege. Für die europäischen Randstaaten, von denen einige eine lange Zeit Großmächte waren, ist es wichtig gewesen, wer in der Mitte geherrscht und die Regeln bestimmt hat. Wer das Zentrum des europäischen Kontinents passieren wollte, ist abhängig von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen in Europas Mitte gewesen. Es lag also durchaus im Interesse der europäischen Außenmächte, dass sich die Deutschen in der Mitte des Kontinents nicht auf einen gemeinsamen Staat einigen konnten. Stattdessen gab es bis zu 350 Einzelstaaten auf deutschem Boden. Es kam den Randmächten entgegen, dass der Prozess der Nationalstaatswerdung, der Europa am Ende des 18. Jahrhunderts erreicht, an Deutschland lange Zeit vorbeigegangen ist. Mehr noch: Im Westfälischen Frieden von 1648 wurden die deutschen Partikularstaaten zu Subjekten des Völkerrechts und konnten fortan Verträge mit andern Staaten abschließen. Die europäischen Mächte haben die deutschen Territorialfürsten also gegen die kaiserliche Zentralmacht gestützt. Die Deutsche Revolution von 1848 ist an der „deutschen Frage“ gescheitert, weil man sich nicht einigen konnte, wer eigentlich zu Deutschland gehört und wer nicht. Die beiden Versuche des 20. Jahrhunderts die „deutsche Frage“ mit Gewalt zu lösen, gehören ebenfalls in diese Reihe. Im Übrigen ist auch diese Frage nicht mit kriegerischen Mitteln gelöst worden, sondern durch Diplomatie nach einer erfolgreichen und friedlichen Revolution in Ostdeutschland. Erst mit der deutschen Einheit und der europäischen Integration des vereinten Deutschlands ist die „deutsche Frage“ gelöst – ohne einen einzigen Schuss abzufeuern.

Die Teile dominieren das Ganze

Für die deutsche Geschichte ist die starke Position der Partikulargewalt kennzeichnend. Zwar haben deutsche Kaiser über große Teile Europas geherrscht, aber sie hatten kein eigenes Heer. Ohne die deutschen Fürsten ging nichts im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“. Aus dieser Gemengelage hat sich über die Jahrhunderte eine besondere Tradition des „Gebens und Nehmens“ entwickelt. Wenn der Zentralstaat etwas wollte, dann mussten die Territorialstaaten entweder der gleichen Meinung sein oder durch Zugeständnisse, Geldzahlungen, neue Privilegien oder sonstige Vergünstigungen „überzeugt“ werden. Daraus ist ein institutionalisiertes Mitspracherecht entstanden. Dieser Föderalismus ist historisch gewachsen und eine der Konstanten in der deutschen Geschichte. Die Ministerpräsidenten von heute sind die Nachfolger der Territorialfürsten des Mittelalters – und sie benehmen sich manchmal auch so.

Magna Charta 2

Fasst man die Thesen zusammen, dann ergeben sich Schlussfolgerungen, die bei einer politischen Einheit Europas berücksichtigt werden sollten. Der alleinige Verweis darauf, dass die EU einen Krieg in Europa verhindert, reicht bei Jüngeren nicht aus, um Europabegeisterung zu erzeugen. In einer zweiten „Magna Charta“, die nicht zurückgenommen werden kann, sollten die gemeinsamen Wurzeln benannt und für ein Europa der toleranten Religionen geworben werden. Das vermutlich höchste Gut neben den allgemeinen Menschenrechten ist die Trennung von Kirche und Staat. Das gilt auch für die Aufklärung, die aus Europa einen Kontinent gemacht hat, der auf das Wissen und nicht den Glauben setzt. Der für jüngere Europäer wahrscheinlich wichtigste Punkt ist die Garantie eines europäischen Sozialstaats, der Ausbildungsplätze und Hilfe in der Not ebenso festschreibt, wie er genügend Schulen und Kindergärten bereithält. Das besondere an der historischen Magna Charta des Jahres 1215 ist die Tatsache, dass sie als „sakrosankt“, also „unverletzlich“ betrachtet und deshalb auch nie in Frage gestellt wurde. Das muss auch für die Magna Charta 2 gelten.

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