Читать книгу Zauderer mit Charme - Matthias Wiesmann - Страница 9
Das lange Warten in Paris
ОглавлениеKaum mit dem Schlafwagen in Paris angekommen, erwartete sie schon die nächste Komplikation. Respinger erfuhr in der schweizerischen Gesandtschaft, dass der chinesische Botschafter in Frankreich aufgrund von Meldungen aus Chongqing von einer Weiterreise nach China abriet. Offenbar waren die Chinesen beleidigt, dass die offizielle Schweiz noch keinen Gesandten nach Chongqing geschickt hatte. Trotz eines Briefs von Bundesrat Walther Stampfli an den chinesischen Wirtschaftsminister, in dem er eine baldige Entsendung versprach, gab der chinesische Botschafter nicht nach. Die Delegation habe den Charakter einer rein wirtschaftlichen Mission. Man könne sie jetzt nicht gut empfangen. Dies sei ein Befehl von Chiang Kai-shek, und General Kwei müsse gehorchen.
In diese Ungewissheit platzte am 7. Mai 1945 die Kapitulation Deutschlands. Schindler notierte: «Im Gare St Lazare ist das Publikum freudig erregt, aber nicht enthusiastisch. Abends durchziehen Gruppen von jungen Leuten singend die Boulevards. Man sieht Ehepaare auf der Strasse sich küssen. Gelegentlich wird die Marseillaise gespielt und jedermann steht entblössten Haupts und salutierend. Gedämpfte Freude, aber doch richtige Freude.» Am darauffolgenden Tag beobachtete er, wie Jeeps und militärische Fahrzeuge mit Frauen und Soldaten durch die Strassen fuhren und mit grossem Jubel begrüsst wurden. «US Soldaten, die zuviel getrunken haben, stürzen sich auf jede Frau, die in ihre Nähe kommt und nicht gerade uralt ist, und küssen sie schmatzend ab. Sie lassen sich das lachend gefallen, auch die Ehemänner der abgeküssten Frauen. Wenn man viel durchgemacht hat, versteht man andere Leute besser und nimmt kleinere Unarten weniger tragisch.»
In den nächsten Tagen trafen unterschiedlich lautende Meldungen ein. Es zeigte sich aber bald, dass die Delegation erst später im Jahr in China empfangen werden sollte. «Es ist schwierig, die Wahrheit zu erfahren. Wenn sich die Chinesen getäuscht haben, so wollen sie es nicht zugeben.» Da man weiter auf die offizielle Meldung von General Kwei wartete, blieb die Delegation vorerst in Paris. Schliesslich kaufte sich Schindler Rückreisetickets, um gleichentags zu erfahren, dass doch noch Hoffnung auf eine Weiterreise nach Chongqing bestand. «Ich wäre am Samstag wirklich gerne nach Hause gereist. Die neue Umstellung ärgert mich genau wie mich als kleiner Bub die Umstellung der Ferienpläne der Familie geärgert hat», notierte er entnervt. Zum Trost ging die Delegation ins Casino de Paris. Doch Schindler fand nicht sonderlich Gefallen daran: «Viel amerikanisches Militär, das bei besonderen Nacktheiten oder Anzüglichkeiten tierische Laute von sich gibt. Wenig Witz und Kunst, viel Kitsch und im zweiten Teil déshabillage [Striptease] in Serie.» Schon am nächsten Tag wurde der Delegation von chinesischer Seite erneut geraten, nun doch in die Schweiz zurückzukehren und nicht weiter darauf zu insistieren, jetzt in Chongqing empfangen zu werden. Neben den internen Machtkämpfen um Einfluss in wirtschaftlichen Belangen, der auf dem Rücken der Schweizer Delegation ausgetragen wurde, gab es einen weiteren Grund für die Verzögerung der Reise: Im Frühling 1945 fand in Chongqing der 6. Nationalkongress der Kuomintang, der Regierungspartei von Chiang Kai-shek, statt, sodass die Unterkünfte in der Stadt knapp und die Vertreter der Behörden mit wichtigeren Dingen beschäftigt waren.
Am 19. Mai 1945 traten sie die Rückreise an. Doch kaum wieder in Zürich, berichtete General Kwei, dass Chang Kai-shek nun doch signalisiert habe, dass sie in Chongqing willkommen seien. Schindler schickte die Pässe der Delegation erneut an das Politische Departement zur Erneuerung der Visa. Am 18. Juni 1945 starteten sie den zweiten Versuch. Respinger gehörte allerdings nicht mehr zur Delegation, weil sich das Verhältnis zwischen ihm und Schindler in Paris zusehends verschlechtert hatte. Unter anderem hatte sein ständiges Nörgeln an der Qualität seines Hotelzimmers beinahe zu einer diplomatischen Eskalation geführt. Schindler hatte der AIAG deshalb mitgeteilt, dass die Mitglieder der Delegation nicht unglücklich wären, wenn Respinger bei der zweiten Reise nicht dabei wäre. Die AIAG kam dem Wunsch nach und informierte den in Rom weilenden Respinger erst, als die Delegation bereits unterwegs war.