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Das Erbe Mendelssohns
ОглавлениеOhne den Verlauf dieser Darstellung der intellektuellen Landschaft zu unterbrechen, die Leo Baeck von seiner Geburt bis 1895 begleitete, das Jahr, in dem er seine Rabbinerstudien abschloss, ist dies der richtige Augenblick, um die Reaktionen der deutsch-jüdischen Philosophen auf die Doktrin Mendelssohns Revue passieren zu lassen: Insgesamt wollten alle Denker, von Saul Ascher bis zu Franz Rosenzweig, in ihm den Archetypus des deutschen Juden und mithin ihr spirituelles Vorbild sehen. Es war keine leichte Aufgabe – ein Philosoph wie Kant sah in der jüdischen Religion nichts als einen Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welche eine Staatsverfassung gegründet war.
Genau wie Abraham Geiger, der Begründer des liberalen deutschen Judentums, dessen prägende Gestalt im 20. Jahrhundert Baeck sein sollte, war auch Moritz Lazarus (1824–1903) Mendelssohn dafür dankbar, dem Judentum eine vorteilhafte Darstellung verschafft zu haben. Der Hegelianer Samuel Hirsch erkannte Mendelssohns Mut an, die Herausforderung Johann Kaspar Lavaters angenommen zu haben, stellte jedoch auch fest, dass die vom Autor des Werkes Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum befürworteten Lösungen nicht mehr aktuell seien. Franz Rosenzweigs Hommage an Mendelssohn fiel ziemlich begrenzt aus: Er habe das messianische Erbe Israels bewahrt, auch wenn seine Bewusstseinsbildung nicht weiter zurückginge als bis Dezember 1769, den Zeitpunkt der Lavater-Affäre – und da sei er bereits vierzig Jahre alt gewesen! Schließlich beklagte Rosenzweig, dass Mendelssohn sich in seiner Verteidigung des Judentums eines zeitgenössischen ideologischen Arsenals bedient habe, das sich in der Folge als wirkungslos erwiesen habe.
Leopold Zunz (gest. 1886) erwies dem Ahnherrn des deutschen Judentums eine begeisterte Hommage: Er sei, so schrieb er, sein spirituelles Kind, wie ein Schüler im Verhältnis zu seinem Lehrer. Die Uneigennützigkeit Mendelssohns unterstreichend, hob Zunz die Liebe hervor, die dieser Mann seinem Volk und seiner Religion unaufhörlich erwiesen habe. Zunz, der selbst eine deutsche Übersetzung der hebräischen Bibel unternahm, erkannte die Verdienste seines berühmten Vorgängers, der die intellektuelle Geschichte des Judentums revolutionierte. Er teilte die Phobie von Heinrich Grätz (1817–1891), Samson-Raphael Hirsch (1808–1888) und Mendelssohn selbst gegenüber dem Jiddischen und den polnischen Juden und lobte den Autor des Jerusalem-Buches dafür, die „östliche Barbarei“ verbannt zu haben. Er sei, so fügte er hinzu, der Wohltäter aller deutschsprachigen Juden gewesen! Nebenbei stigmatisierte Zunz die Haltung einiger Juden, die meinten, ihnen käme es nicht zu, das Andenken an diesen großen Mann zu ehren, dies wäre mehr Sache der Philosophen und Gelehrten. Ganz im Gegenteil, lautete Zunz’ Antwort, sie seien ihm doppelt zu Dank verpflichtet, als Juden und als Menschen! Zunz dachte dabei vielleicht an die zweideutige Würdigung Mendelssohns durch Leopold Löw aus dem Jahr 1826. Nachdem er daran erinnert hatte, dass nur der Sohn eines Thorarollen-Kopisten die hebräische Grammatik derart gut kennen könne wie Mendelssohn, merkte Löw an, dass er in den Bereichen der Bibelexegese und der deutschen Philosophie nicht einen einzigen neuen, eigenen Beitrag geleistet habe. In seiner Kritik an Mendelssohn zitiert er auch Bruno Bauer (1809–1882), nach dessen Aussage der Einfluss Mendelssohns auf die Juden gleich null gewesen sei.
Das an Geistesgrößen so reiche deutsche 19. Jahrhundert konnte auch einen traditionalistischen jüdischen Denker hervorbringen, der in Frankreich noch kaum bekannt ist, von einem Fachmann wie Hans-Joachim Schoeps aber als „erster jüdischer Theologe der Neuzeit“ bezeichnet wurde: Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866), den Baeck in seinen Schriften anscheinend vollkommen vernachlässigt hat.
Dieser Mann, knapp dreißig Jahre nach dem Tod Mendelssohns geboren, sagte über letzteren, er sei nichts weiter gewesen als ein „beschnittener Heide“! Tatsächlich wollte Steinheim nicht philosophieren und war ein ausgewiesener Feind jeglicher Philosophie oder – um seinen eigenen Neologismus zu nehmen – jeglichen „Theo-Philosophems“. Weder Maimonides noch Mendelssohn, nicht einmal Samson-Raphael Hirsch fanden Gnade in seinen Augen, weil sie alle das Judentum für die Philosophen-Paläste angenehm gestalten wollten. Die einzige Quelle der Wahrheit (jedoch keinesfalls des Wissens: Er hatte Medizin studiert) sei die hebräische Bibel, und der Schlüssel zum Verständnis des Universums sei nichts anderes als die Offenbarung. Sogar Samson-Raphael Hirsch, unbestrittener Held der deutschen Neuorthodoxie, war in den Augen Steinheims im Unrecht, weil er eine sträfliche Neigung zum Hegelianismus verspürt habe. Dies war eine deutliche Anspielung auf die Neunzehn Briefe über Judentum (Altona 1836, Paris 1987), in denen Hirsch manchmal auf eine hegelianische Terminologie zurückgreift. Nach Steinheims Ansicht beinhaltete die Offenbarung die folgenden „Dogmen“: die Einheit Gottes, die Schöpfung ex nihilo, die Freiheit der Tat und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Damit ist man beim absoluten Gegenteil der Auffassung Mendelssohns, nach der das Judentum lediglich eine geoffenbarte Gesetzgebung sei und keine ewigen Wahrheiten enthalte, also nichts von dem, was Steinheim in seiner Terminologie als Dogmen bezeichnet.
Ein vielschichtiger Mann wie Ludwig Philippson (1811–1889), Direktor der einflussreichen Allgemeinen Zeitung des Judentums, den manche wegen seiner journalistischen Tätigkeit den „Pförtner der jüdischen Wissenschaft“ nannten, schrieb dazu folgendes bissiges Urteil, das jedoch nicht einer gewissen Wahrheit entbehrt: „Die Idee für frei und das Leben für gefesselt zu erklären, ist der Gipfel des Absurden!“ Eine nicht besonders nette Anspielung auf die Vorstellung Mendelssohns: Man hat das Recht zu denken, was man will, aber auch die absolute Pflicht, die göttlichen Gebote der Thora zu befolgen. Was hier zutage trete, sei eine unnatürliche Trennung zwischen Denken und Handeln.
Im Grunde hat Mendelssohn sich nur über zwei Punkte negativ geäußert: den Rückgriff aufs Jiddische und die Exkommunikation durch Rabbiner. Genügt dies, um zum Vater der Assimilationsideologie zu werden?
Der junge Leo Baeck wurde im Verlauf seiner rabbinischen und philosophischen Studien mit diesem gesamten Erbe konfrontiert. Zu Beginn des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts geboren, welches für das Schicksal der Juden in Europa so bedeutsam war, standen ihm verschiedene Wege offen. Seine hohe politische Intelligenz ließ ihn sie alle erforschen, ohne auch nur einen auszulassen.
Mendelssohn, der die Konturen dieses neuen Judentums gezeichnet hatte, eines Judentums, das in den Traditionen der Ahnen verwurzelt, über Stege jedoch auch mit der Außenwelt verbunden war, sah zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine mächtige Bewegung entstehen, die der Religion Israels wissenschaftliche Grundlagen geben wollte. Dieses Unternehmen wollte die Evolution des Judentums durch die Geschichte hindurch untersuchen. Die Wissenschaft des Judentums – dies war der Name, den die Bewegung sich gegeben hatte – wollte auf das Judentum dieselbe historisch-kritische Methode anwenden, wie die deutsche historiographische Schule (Leopold von Ranke, 1795–1886; Heinrich von Treitschke, 1834–1897) und die Hegelsche Philosophie es auf der Suche nach dem Grundgedanken und Wesen aller Dinge taten. Bei den jüdischen Eliten dieses Jahrhunderts war dies gleichfalls spürbar; auch sie wollten sich wissenschaftlich definieren und ihre Geschichte wissenschaftlich erfassen. Es handelte sich also um das Bemühen, sich selbst zu kennen, begleitet von einer Identitätssuche. Dies sind die beiden großen Säulen der Wissenschaft des Judentums, deren Forschungsgegenstand die Analyse des Denkens und Erlebens der Juden war.
Diese radikal neue Mentalität setzte sich nicht ohne tief greifende Zerrüttungen durch. Die gesamte Konzeption des Judentums sah sich in Veränderung begriffen. Selbst die Ausbildung der Rabbiner – vor allem sie – spürte deutliche Auswirkungen. Ähnlich wie Salomon Maimon (1752–1800) mit seinem bewegten Leben ging das Judentum insgesamt aus den Ghettos Polens hinaus in die Aufklärung Berlins. Die deutsche Art zu predigen, die sich die protestantischen Pfarrer zum Vorbild nahm, verbannte die traditionelle Rabbiner-Predigt in den Hintergrund. Doch diese Periode der Neuordnungen und übereilten Veränderungen führte auch zu Auswüchsen, wie man bei einem deutschen Rabbiner sehen kann, von dem nun die Rede sein wird und der in den Annalen einen einzigartigen Fall darstellt.