Читать книгу Léo Baeck - Maurice Ruben Hayoun - Страница 15

Der seltsame Weg des David Friedländer (1750–1832)

Оглавление

Man beginge ein schweres Versäumnis, würde man nicht über die merkwürdigen Vorschläge David Friedländers sprechen, die die große Verwirrung, mehr noch, das Drunter und Drüber des deutschsprachigen Judentums Mitte des 19. Jahrhunderts anschaulich darstellen.

Aus einer der reichsten jüdischen Familien Königsbergs stammend, wurde Friedländer am 6. Dezember 1750 geboren. 1770 zog er nach Berlin, wo er die Tochter des Bankiers Daniel Itzig heiratete. Dieser stand wegen seines großzügigen Mäzenatentums und seiner uneingeschränkten Unterstützung für Moses Mendelssohn in hohem Ansehen. Friedländer litt unter der sozial unsicheren Stellung der Juden. Ohne eigene Not, mit großen intellektuellen Fähigkeiten und einer soliden, traditionellen jüdischen Kultur ausgestattet, wurde Friedländer zum Pionier der Reform und der Emanzipation der Juden in Preußen. Noch zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, als er bereits siebzig Jahre alt war, einte er die Reihen des Culturvereins! Er und Lazarus Bendavid verkörperten die Erinnerung an das preußische Judentum vor dem Erlass des Gesetzes vom 11. März 1812, das den Eintritt der Juden in die deutsche Gesellschaft einleitete. Die Stellung seines Vaters Joachim Moses Friedländer erleichterte ihm die Aufgabe: Dieser fuhr wegen seiner geschäftlichen Aktivitäten häufig ins Ausland, weshalb er seine Kinder in Fremdsprachen unterrichten ließ. Als Johannes Christian Hennings, Philosophieprofessor an der Universität von Jena, 1772 nach Berlin zog, wurde er von den dortigen jüdischen gebildeten Milieus aufgenommen und auf den jungen Friedländer aufmerksam, den er für „seine Gelehrsamkeit“ lobte.

Es ist ebenso ungerecht wie falsch, zu behaupten, dass Friedländer zu jeder Zeit ein Anhänger der Reform und der Assimilation gewesen sei: Vergessen wir nicht, dass er seinen Berufsweg damit begonnen hatte, ein Gebetbuch ins Deutsche zu übersetzen, ohne auch nur irgendetwas wegzulassen! In seinem berühmten Sendschreiben6 an Pastor Teller schrieb er (S. 13/14): „[…] und wir können nicht anders als die Wirkung segnen, welche die frühere väterliche Erziehung in spätern Jahren auf uns gehabt hat.“ Beim Tod Mendelssohns 1786 erinnerte der Autor an die vierzehn Jahre, während derer er dem jüdischen Philosophen in Berlin fast täglich begegnen konnte. Er war es, der auf Betreiben seines Mentors Mendelssohn den Rabbiner Hirschel Lewin energisch bekämpfte; dieser hatte den Fehler begangen, sich den Reformideen von Hartwig Wessely zu widersetzen, und sogar dessen Ausweisung aus Berlin vorgeschlagen! Friedländer sah sich auch als Wortführer der Haskala und wurde damit, zusammen mit seinem Schwiegervater Itzig, zum Mitbegründer der Jüdischen Freischule in Berlin, deren Inspektor er fast zwanzig Jahre lang war. Diese Schule nahm gemäß ihrem ökumenischen Geist auch christliche Kinder auf. Die zentrale Vorstellung Friedländers war es, das Judentum von all der Schlacke zu befreien, die sich im Lauf der Jahrhunderte um seinen Kern herum angesammelt hatte. In seinen Briefen an Meyer Eger (Glogau) machte sich der Autor über die faulen Kompromisse lustig, die ausgerechnet diejenigen eingingen, die ein rigides Festhalten an der religiösen Tradition mit einer Öffnung hin zur Weltkultur miteinander versöhnen wollten.

Friedländer wollte reformatorisch tätig sein. Ich hatte bereits Gelegenheit, mich in meinem Buch La liturgie juive zu dieser Tätigkeit zu äußern. Der Autor hatte im Frühling 1776 eine deutsche Übersetzung des Siddur in zwei Bänden veröffentlicht. In diesem Werk lässt sich nichts erkennen, was auch nur ansatzweise tendenziös ist: Kein Gebet wurde unterschlagen oder aus seinem Kontext gerissen, und doch wütete derselbe Autor zehn Jahre später gegen die jüdische Liturgie, die er als ignorant und blasphemisch verurteilte.

Wenn die Rezeption und in der Folge der Umgang mit dem Werk und der Person Friedländers durch die jüdische Historiographie nicht von Klarheit und Objektivität geprägt sind, so liegt das am reformatorischen Eifer dieses Mannes, der es verstand, sich im Kielwasser Moses Mendelssohns zu platzieren. Doch kann man sagen, dass Friedländer sein authentischer Nachfolger war? Man erinnert sich an dithyrambische Worte, die er ihm gewidmet hat: „Mendelssohn, Palme Israels, Ceder Libanons!“, rief er aus. „So wuchsest du empor, so überwandest du tausendfältige Hindernisse! Umsonst stellten sich Armuth, Körperbau, Religion Deiner Väter, Staatsverfassung, Dir und Deiner Ausbildung entgegen. […] Wer von Deinen treuen Schülern kann Dich, selbst im hohen Greisesalter, je vergessen“, schließt Friedländer, „Dein Name, Dein Andenken wird ihnen, nie veralternd heilig bleiben.“

Doch ist es derselbe Mendelssohn, der die Tiraden eines alternden Friedländer gegen den Talmud inspiriert hätte? Es ist erlaubt, Zweifel zu hegen. Im JuliÉ1831, mit 81 Jahren, verfasste Friedländer ein vehementes Pamphlet gegen den Talmud: Stocktalmudisten, so schrieb er, hätten keinerlei Ansprüche, zum Beispiel Staats- oder Stadtbürgerrechte zu fordern. Nichts, fügte er hinzu, verpflichte dazu, die Gesetze des Talmuds zu respektieren: „Der Staat allein hat das Recht zu befehlen: was geschehen soll und muss, was unterlassen werden soll und muss.“ Doch merkt er auch an: „In meiner Küche hat er nichts zu befehlen.“ Der alte Friedländer hatte seinen Humor mit den Jahren nicht verloren, denn er unterschrieb mit: „Der alte, gichtbrüchige, seiner Religion mit Leib und Seele anhängende Ballettmeister.“

Die Frage, die sich stellt, ist folgende: In welchem Maß wollte oder konnte Friedländer, ein Gelehrter, der nicht von der Wissenschaft lebte, die Wissenschaft des Judentums beeinflussen? Als nach dem Tod seines Schwiegervaters Itzig alleiniger Leiter der jüdischen Schule von Berlin verstand er es, eine neue Generation von Juden vorzubereiten: Dies ist übrigens der Titel einer guten Studie von Max Freudenthal, der von einem „Geschlecht von Erziehern“ spricht7. Dieser weist darauf hin, dass es die größte Sorge Friedländers gewesen sei, die Bildung der jüdischen Jugend tief greifend zu verändern.

Das Sendschreiben an einen bedeutenden Berliner Pastoren namens Teller ist in der neueren Geschichte des Judentums einzigartig: der gewichtige Leiter einer Gemeinde, der es wagt, sich auf diese Weise an einen Pastor zu wenden, um eine Art religiöse Vereinigung zu verhandeln, und zwar unter der ausdrücklichen Bedingung, dass die Christen zustimmen, alle Glaubensbestandteile aus ihrer Religion zu entfernen, die der Vernunft und dem reinen Verstand widersprechen!

Friedländer hat eine Anzahl von Texten verfasst, die uns relativ gut über sein Denken und den Zustand der jüdischen Gemeinden im Deutschland seiner Zeit Auskunft geben. 1799 wendet er sich an Pastor Teller, um ihm eine Art ausgehandelter Konversion anzubieten: Er selbst, Friedländer, sei ebenso wie eine Reihe von herausragenden Familienoberhäuptern bereit, sich dem Christentum anzuschließen, wenn sich dieses nur von seinen irrationalsten Doktrinen lösen würde …

An den „Vernunft-Wahrheiten“ wie dem Monotheismus, der Unsterblichkeit der Seele, der Bestimmung des Menschen etc. hatten die Juden nichts auszusetzen. Die christlichen „Geschichts-Wahrheiten“ dagegen, wie die Göttlichkeit Jesu, die Sakramente der Taufe und des Abendmahls, konnten nicht als rationale Doktrinen angesehen werden; folglich empfiehlt Friedländer ein bereinigtes Christentum.

Der Brief Friedländers scheint der Endpunkt eines sorgfältig gereiften Prozesses zu sein: Drei anonyme Texte, die zwischen 1794 und 1799 erschienen waren, kündigten die grundlegenden Inhalte bereits an. Doch das Sendschreiben selbst artikuliert folgende drei Punkte, die den Autor anscheinend intensiv beschäftigt haben, am besten: die wesentliche Auffassung von Religion, die Haltung gegenüber den Zeremonialgesetzen und schließlich das Problem des Messias. Im Gegensatz zu Mendelssohn, der an den Zeremonialgesetzen festhielt, war Friedländer der Ansicht: „Pflicht und Gewissen fordern von uns, dass wir unsern bürgerlichen Zustand durch Reinigung unsrer religiösen Verfassung verbessern.“ Und dies setze eine Abschaffung dieser Gesetze voraus.

1812, in dem für die Emanzipation der Juden in Preußen so entscheidenden Jahr, veröffentlichte Friedländer eine Schrift zur Reform des Gottesdienstes in den Synagogen. Nach einem flammenden Plädoyer zugunsten eines Gebets, das von allen angehäuften Schlacken der vergangenen Jahre gereinigt sein solle, schrieb Friedländer über den preußischen Juden, der seine Staatstreue anerkennt, sich dafür einsetzt, die deutsche Sprache als einzige Muttersprache zu sprechen und das Wohl seiner Mitbürger zu erstreben, denen er bei vielfachen Gelegenheiten gesellig begegnen solle (S. 11).

Können wir angesichts all dessen, was vorhergegangen war, sicher sein, dass sich Friedländer wirklich im Kielwasser seines verstorbenen Lehrers Mendelssohn platzierte? Ein Rabbiner wie Leo Baeck dachte das nicht wirklich.

Léo Baeck

Подняться наверх