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Samuel Holdheim (1806–1860), heterodoxer Rabbiner und Gegner des Talmuds

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Nicht alle Richtungen innerhalb des deutschen Judentums des 19. Jahrhunderts waren derart ausgewogen. Jede Übergangsperiode hatte ihre übertriebenen Verhaltensweisen. Dies war zum Beispiel bei Samuel Holdheim der Fall, der in Kempen in einem traditionellen Milieu geboren wurde, welches von der Haskala-Bewegung vollkommen verschont blieb. Von 1836 bis 1840 hatte er das Amt des Rabbiners in Frankfurt an der Oder inne, wo er als Traditionalist galt, bis er die Lektüre von Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden von Zunz beendet hatte. Dieses klassische Werk wurde in einer Zeit veröffentlicht, in der sein Autor großen Wert auf die Reformbewegung in Deutschland legte. Es wäre jedoch ein Irrtum, diesen Gesinnungswandel mit einer einzigen Lektüre zu erklären, so einflussreich sie auch war: Es sind die Stürme und Veränderungen einer Epoche, die das Auftreten einer Persönlichkeit wie Holdheim begründen.

Die ersten Rabbinerversammlungen wurden zwischen 1844 und 1846 in Braunschweig, Frankfurt am Main und Breslau abgehalten. Der junge Holdheim war ein hoch geehrter Talmud-Wissenschaftler, der langsam entdeckte, dass der wahre Geist des Judentums perfekt zur zeitgenössischen Kultur passte. Das ist die zentrale Idee, die er in zahlreichen Schriften entwickelt: Die zeitgenössische Kultur müsse die jüdische Kultur begleiten, was das Problem der tatsächlichen Stellung des mündlichen Gesetzes2 mit besonderer Schärfe ans Licht brachte.

In seinem Werk, das den Titel Das Ceremonialgesetz im Messiasreich trägt, unterstreicht Holdheim, dass unsere aktuelle Auffassung der Religion notwendigerweise von dem Bewusstsein herrührt, das wir von der jeweiligen Zeit haben. Dasselbe Prinzip wird infolgedessen auf die Epoche und die Menschen zur Zeit des Talmuds angewandt. Die Religion solle keine auf Gewohnheit gegründeten Vorrechte haben, und der Irrtum, so ehrenhaft er auch sein möge, könne sich nicht vor dem Tribunal des Gewissens behaupten, jener obersten Instanz der Menschheit, die daher noch über der göttlichen Offenbarung stehe. Um den Grund seines Denkens zu präzisieren, legt der Autor fest, dass unser Gewissen nicht danach streben solle, sich gegenüber der rabbinischen Sichtweise zu rechtfertigen; es solle sich weiterhin auf seine eigene Autorität berufen. Im Gegensatz zu dieser Haltung, die faktisch den ewigen Fortbestand des geschriebenen und mündlichen Gesetzes verneint, gründeten die Rabbiner den ewigen und unveränderbaren Charakter des Gesetzes auf eine mögliche politischnationale Restauration des jüdischen Volkes. Für sie sei das Gesetz ewig gültig, weil Gott, die Quelle des Gesetzes, gleichfalls ewig sei.

Um im Verteidigungssystem der Rabbiner einen Fehler zu finden, versucht Holdheim, aus dem Talmud Argumente gegen seine traditionalistischen Gegner herauszufiltern. Er beschließt, seine Aufmerksamkeit auf den Versöhnungstag und den Erlass der Sünden zu konzentrieren. Da, so sagt er, die Hände des Juden gebunden seien und er bestimmte Gesetze nicht mehr erfüllen könne, vor allem jene des Opferkultes, von denen die Sühne der Fehler abhinge – und diese nimmt ja im religiösen System in der Tat eine zentrale Rolle ein –, wie könne man unter diesen Bedingungen Vergebung erlangen? Holdheim zitiert drei Bezugsstellen aus dem Talmud3, in denen die Rabbiner mit folgendem Tenor zu Gott beten: Die Vorstellung der Sühne ist nicht absolut mit den Opfern verbunden, die nur während des Bestehens des Tempels gerechtfertigt waren, und Gott hat vorgesehen, die Vergebung der Sünden durch andere Mittel zu gewähren. Warum sollte man folglich für die Restauration des Tempels und die Rückkehr nach Zion beten?

Indem er solche Gedankengänge entwickelte, brachte sich Holdheim ans äußerste Ende des jüdisch-deutschen Spektrums und vor allem in eine extreme Gegenposition zum Hauptvertreter der Neuorthodoxie, Samson-Raphael Hirsch. Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod Moses Mendelssohns, im Jahr 1836, veröffentlichte dieser sein Werk Neunzehn Briefe über Judentum. Darin distanzierte er sich von einer Emanzipation, die sich in seinen Augen als gewaltiger Assimilationsfaktor erwiesen habe. Während also Jerusalem von Mendelssohn sich ad extra gewendet hatte, wollte das Werk von Hirsch ein Plädoyer pro domo sein: Es ging eher darum, die deutschen Juden im Schoß ihres Judentums zu verankern, nicht darum, dieses in verführerischen Farben auszumalen. Bei Samson-Raphael Hirsch haben wir es mit einem Meister der Tradition zu tun, in einer Epoche, in der die Reform große Triumphe feierte.

Léo Baeck

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