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3. Kritik als besondere Wissenschaft. Organon und System

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Mit der KrV verfolgt und realisiert Kant (jedenfalls im Umriss) die Idee einer »besonderen Wissenschaft«.18 »Besonders« ist an ihr, dass nach Kants Auffassung niemand sie bisher konzipiert und realisiert hat. Und besonders ist an ihr, dass sie in der bestehenden Ordnung der Wissenschaften eine ganz eigene Stellung zwischen der rein formalen, von allem Inhalt und Gegenstandsbezug abstrahierenden Logik und den materialen Wissenschaften von der Welt einnimmt. Kant kennzeichnet sie als »Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen«.19 Es handelt sich, kurz gesagt, um eine Wissenschaft von der Struktur des reinen apriorischen theoretischen und praktischen Wirklichkeitsbezugs unserer Vernunft. Vernunft ist für Kant in diesem Zusammenhang das Vermögen, »welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt«.20 Unter »Erkenntnis a priori« versteht er nichtempirische Erkenntnis, ein, wie er sich ausdrückt, »von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis«.21

Dass es solche Erkenntnis gibt, ist uns aus der formalen Logik und der reinen Mathematik hinreichend vertraut. Beide sind, auch nach heutigem allgemeinem Verständnis, keine empirischen Wissenschaften. Doch Kant hat mit seiner besonderen Wissenschaft in theoretischer Hinsicht nicht primär diese kaum umstrittenen nichtempirischen theoretischen Disziplinen, er hat etwas Neues im Auge. Er äußert eingangs der Einleitung B die Vermutung,

»dass selbst Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt, welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur bloßen Absonderung geschickt gemacht hat«.22

Kant interessiert also mit seiner besonderen Wissenschaft einer Kritik der reinen Vernunft die Erfassung und Erläuterung des Nichtempirischen im Empirischen,23 sei es in Aussagen, in denen die Welt beschrieben und erklärt wird, sei es in Sätzen, in denen uns etwas in der Welt zu tun oder zu unterlassen geboten oder empfohlen wird. Und der Schwerpunkt der Kritik liegt zunächst auf der ersten Art von Sätzen.

Kant bemüht zur Verdeutlichung seines neuen Anliegens und Vorhabens das alte aristotelische Verstehensmodell von Stoff und Form. Das »Gebilde« veritabler Erfahrungserkenntnis ist etwas aus Form und Materie Zusammengesetztes, das Ergebnis eines Zusammenspiels dessen, was die Sinne uns rezeptiv an Eindrücken von der Welt liefern, und dessen, was wir aktiv über Leistungen unserer Erkenntnisvermögen zur epistemischen Formung, Strukturierung und Buchstabierung des Materials der Eindrücke beitragen.

Doch Kant interessiert bei seiner besonderen Wissenschaft in theoretischer Hinsicht nicht alles an diesem unserem Beitrag, sondern nur ein ganz bestimmter Zusatz. Vieles tragen wir zur epistemischen Erfassung von aktuellen Eindrücken bei, was wir aus individueller und kollektiver Erfahrung beizutragen gelernt haben, sei es bewusst, sei es unbewusst. Die Assoziations-, die Gestalt-, die Kulturpsychologie und andere Disziplinen mehr mögen uns darüber belehren. Nicht dies interessiert. Kant interessiert vielmehr jener nicht zeitlich, sondern sachlich vorgängige, apriorische Zusatz, der in aller menschlichen Erfahrungserkenntnis, aller bestimmten Erfahrung vorgängig, notwendigerweise als formendes Element im Spiel ist, wenn von einer gelungenen empirischen Erkenntnis mit Anspruch auf objektive Geltung die Rede sein soll.

Es sei hier nur angedeutet, was mit diesem apriorischen Zusatz gemeint ist: Wir gliedern, was die Eindrücke uns bekunden, nach den Ordnungsmustern von Vorher, Nachher und Gleichzeitig, von Ineinander und Außereinander, von Ding und Eigenschaften, von Ursache und Wirkung etc. So muss ich etwa, um ein Erfahrungsobjekt als wirklich behaupten und von bloß Fiktivem unterscheiden zu können, ihm seine Raum-Zeit-Stelle zuweisen, es mit anderem bereits Bekannten verbinden und in die Ordnungsmuster der Kausalität integrieren können. Diese Ordnungsgesichtspunkte sind definierende Wesensbestandteile von Erfahrungserkenntnis. In Kants Sprache gesprochen: Diese Gesichtspunkte sind keine Erfahrungsgegebenheiten, sondern machen, was unter einer Erfahrungserkenntnis zu verstehen ist, allererst möglich. Und diese Gesichtspunkte gilt es zu untersuchen. Von ihnen und ihrem Gefüge und von ihrer Beziehung zu Logik und Mathematik ist auf dem Wege transzendentaler Analyse und Reflexion eine Wissenschaft möglich. Das epistemische Vermögen, diese Gesichtspunkte zu liefern ebenso wie zu reflektieren, nennt Kant »reine Vernunft«. »Daher ist reine Vernunft diejenige, welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält.«24

Die Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen nennt Kant »Kritik der reinen Vernunft«.25 Ihr der Idee nach abschließbares und objektiv gültiges Reflexions- und Beurteilungsergebnis wäre ein »Organon der reinen Vernunft«. Die Rede vom Organon erinnert an das Oeuvre des Aristoteles. Enthielt das aristotelische Organon nach Kants Sicht der Dinge nur rein formale Elemente der Logik und wissenschaftlichen Argumentation, so soll sein eigenes »Organon der reinen Vernunft« dem Ziel nach alle rein apriorischen Elemente des geordneten Bezugs der theoretischen und praktischen Vernunft auf Gegenstände der Erfahrung ebenso wie Kriterien seiner Unterscheidung vom ungeordneten Bezug auf Gegenstände überhaupt enthalten. Dies »würde ein Inbegriff derjenigen Prinzipien sein, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori erworben und wirklich zustande gebracht werden«.26 Die Betonung liegt hier auf »alle reinen Erkenntnisse a priori«.

Vom Organon als bloßem Prinzipien-Instrument zur Erstellung reiner apriorischer Erkenntnisse ist der Einsatz des Instruments und das erfolgreiche Erzielen, Sammeln und abschließende Ordnen reiner apriorischer Erkenntnisse überhaupt zu unterscheiden. Dieses letzte epistemische Ziel nennt Kant Tranzendentalphilosophie als »System der reinen Vernunft«.27

Sowohl die philosophische Arbeit an der Erfassung des Organons als auch den Einsatz des Organons in der Arbeit am System kennzeichnet Kant mit dem Ausdruck »transzendental«. Transzendentales Philosophieren ist nicht selbstvergessen objektbezogenes, sondern in seiner Objektbezogenheit reflexives, auf die rein apriorischen Elemente des Gegenstandsbezugs reflektierendes Denken. Es geht in ihm nicht darum, in direktem Zugriff auf den Gegenstand zu erfassen, was etwas ist und warum es so ist, wie es ist (oder sein soll). Es geht ihm vielmehr darum, zu erfassen, ob und wie und inwieweit es möglich ist, zu erkennen, dass und warum etwas so ist, wie es ist (oder sein soll). Und dies auf apriorische Weise. »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.«28 Transzendentalphilosophie klärt also das gesamte Vermögen und die gesamten Leistungen unserer Vernunft im Blick auf »unsere Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt«.29 »Ein System solcher Begriffe würde Transzendentalphilosophie heißen.«30

Nun möchte Kant mit seiner KrV, wie gesagt, nicht Organon und System der reinen Vernunft in einem liefern. Dies wäre, wie er sagt, für den Anfang zu viel, müsste dies doch alle analytische Erkenntnis a priori und alle reine synthetische Erkenntnis a priori umfassen. Mit den analytischen Vernunftleistungen möchte er sich in der Kritik nur so weit befassen, als es »unentbehrlich notwendig ist, um die Prinzipien der Synthesis a priori, als worum es uns nur zu tun ist, in ihrem ganzen Umfange einzusehen«.31 Die Rede von »Prinzipien der Synthesis a priori in ihrem ganzen Umfange« lässt bewusst offen, was alles mit diesen Prinzipien der Synthesis32 noch an nichtreinen apriorischen Erkenntnissen, das heißt an Metaphysik im kritischen Sinn, zu erzielen ist.

Die KrV liefert nur das Organon und nur die Umrisse des Systems, nicht aber das ausgeführte System der reinen Erkenntnisse a priori. Sie ist, wie es im Vorwort zur zweiten Auflage heißt, »ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriss derselben, sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben«.33

Die Grenze zwischen Transzendentalphilosophie und kritischer Metaphysik ist in der KrV nicht immer klar gezogen. Transzendentalphilosophie (im engen Sinn) ist nach Kants eigenen Worten auf den reinen Teil der apriorischen Erkenntnisse beschränkt. Deshalb, so Kant, sollte auch die Moralphilosophie nicht umstandslos zur Transzendentalphilosophie gerechnet werden.

»Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendental-Philosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen.«34

Praktische Philosophie bei Kant

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