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1. Die Grundlegung der Metaphysik als Anliegen der Kritik

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Kant beginnt seine akademische Laufbahn mit Studien über elementare Fragen der damaligen Physik: über den Begriff der Kraft, die Natur des Feuers, die Struktur der Planetenbewegung, das Wesen des Raumes, den Begriff der Materie. Jedoch versteht sich Kant von Anfang an nicht als empirischer Physiker. Sein leitendes Interesse gilt vielmehr dem, was er reine Physik nennt; es gilt den nichtempirischen, den metaphysischen Grundlagen der Physik. Doch sein Interesse gilt nicht nur den metaphysischen Grundlagen der Physik, sondern der Metaphysik im Ganzen, der cosmologia, psychologia und theologia rationalis.

Im Verlauf seiner frühen wissenschaftlichen Entwicklung wird er immer unsicherer hinsichtlich des epistemischen Status von Aussagen metaphysischer Art, die etwa den Ursprung und das Ganze der Welt, das Wesen der menschlichen Seele, das Dasein und Wesen Gottes und seine Beziehung zur Welt betreffen. Seine Liebe zur Metaphysik1 bleibt gleichwohl, wenn auch nach seinen eigenen Worten zeitweise etwas einseitig, ungetrübt und ungebrochen. Dies gilt auch für die Phase Mitte der 60er Jahre, in der Kant von den Anfechtungen und Ablenkungen des Empirismus und der Skepsis am stärksten affiziert wird. Kant weiß dabei immer, dass seine Liebe zur Metaphysik keine idiosynkratische Liebe ist, sondern einer Anlage des Menschen als eines vernunftfähigen Sinnenwesens entspricht, einer Anlage, die bei ihm vielleicht nur etwas stärker ausgeprägt sein mag als bei anderen Menschen.

Diese von Seiten der Geliebten zunächst recht schwankend und zurückhaltend erwiderte Liebe lässt in ihm, dem Philosophen und Wissenschaftler aus Neigung, das Bedürfnis wachsen, Metaphysik auf ein wissenschaftlich bzw. philosophisch sicheres Fundament zu stellen, die prekäre Liebe sozusagen in den sicheren Hafen einer rechtsverbindlichen und dauerhaften Ehe zu führen. Dass bei diesem Versuch einerseits das unausrottbare Verlangen menschlicher Vernunft nach Einsicht in den Ursprung und die verborgenen Eigenschaften der Dinge zu berücksichtigen ist, andererseits sowohl die nüchtern-realistische Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten als auch die haltgebende Bindung an Erfahrung eine besondere Rolle spielen muss, war ihm frühzeitig klar.

»Die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann, leistet zweierlei Vorteile. Der erste ist, den Aufgaben ein Genüge zu tun, die das forschende Gemüt aufwirft, wenn es verborgenen Eigenschaften der Dinge durch Vernunft nachspäht. Aber hier täuscht der Ausgang gar zu oft die Hoffnung […]. Der andre Vorteil ist der Natur des menschlichen Verstandes mehr angemessen und besteht darin: einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urteile jederzeit stützen müssen.«2

Der persönlich besonders ausgeprägten und als allgemein menschlich unterstellten Liebe zur Metaphysik und dem persönlich ebenso wie im neuzeitlichen Progress der Wissenschaften sich steigernden Bedürfnis nach einem sicheren Fundament für metaphysische Aussagen entspringt Kants großes philosophisches Unternehmen der Kritik, nämlich die Klärung und Beantwortung der Frage, wie, in welcher Reichweite, in welchem Behauptungsmodus, durch welche Vernunftlegitimation Metaphysik als Wissenschaft, aber auch Metaphysik als allgemeinmenschliche Kultur einer Naturanlage möglich ist.

Neben Prinzipienfragen der Physik gilt Kants metaphysisches Interesse schon sehr früh und anhaltend auch Grundfragen der Moral. Bereits am 31. 12. 1765 stellt Kant in einem Brief an den Philosophen, Mathematiker und Physiker Johann Heinrich Lambert in Aussicht, in Bälde Schriften zu den »metaphysische[n] Anfangsgründen der natürlichen Weltweisheit, und [den] metaph. Anfangsgr. der praktischen Weltweisheit« zu liefern.3 Kants Metaphysik der Sitten, das heißt seine Ethik und Rechtsphilosophie, sollte letztendlich erst gegen Ende seines Lebens im Jahre 1797 fertiggestellt sein und im Buchhandel erscheinen. Dazwischen liegen in den 60er und 70er Jahren Anläufe und Vorstudien zum Kritik-Unternehmen und schließlich, in den 80er Jahren, die Realisierung dieses Unternehmens, zunächst als ausführliche Kritik der reinen theoretischen Vernunft, und dann auch, in ausführlicher Ergänzung, als Kritik der reinen praktischen Vernunft und als Kritik der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft.

Wichtig scheint mir, sich stets vor Augen zu halten, dass das Kritik-Unternehmen, wie der systematische Schlussteil, die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, bereits hinreichend belegt, sich auf die theoretische und die praktische Vernunft bezieht, dass die Unterscheidung und die Verbindung von theoretischer und praktischer Vernunft sich in den Vorreden, dem Dialektikkapitel und der Methodenlehre der KrV als zentrales Problem darstellt und dass die wissenschaftliche bzw. die philosophisch überzeugende Lösung metaphysischer Fragen auf kardinale Weise von der Lösung dieses Problems der Einheit der Vernunft in der Realisierung ihrer verschiedenen Funktionen und Anliegen abhängig ist.

Praktische Philosophie bei Kant

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