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5. Der Weise des Evangeliums und seine Lehre

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Kant hat, dies lässt sich den Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses eindeutig entnehmen, vom Beginn der 70er Jahre bis etwa um die Zeit der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft eine moralphilosophische Grundposition ausformuliert, die er in ihren wesentlichen Zügen bis zum Ende seines Lebens beibehalten wird. Man mag sie mit dem Titel eines aufgeklärten, christianisierten, stoisch imprägnierten Platonismus charakterisieren. Religion wird völlig in den Kontext eines rational zu interpretierenden moralischen Selbstverständnisses gestellt und an ihm gemessen. Wie es in späten Reflexionen zur Religionsphilosophie heißt: Moral ohne Religion ist unmöglich »in Ansehung des Endzwecks«;237 aber: »Das Dasein der Gottheit ist nicht bewiesen, sondern es wird postuliert, und es kann also bloß dazu dienen, wozu die Vernunft gezwungen war, es zu postulieren«.238 Dass Kant bereits in der Zeit zwischen 1773 und 1779 genau diese Position vertrat, zeigt sein damaliges Verständnis der christologischen Erlösungstheologie:

»Es konnte zu gewissen Zeiten nötig sein zu wissen, wie Gott die Gebrechlichkeit unserer Moralität ergänzte (um den Menschen von abergläubischen Satzungen loszumachen); aber an sich selbst ist dem Menschen nichts mehr nötig als zu wissen, wie er sich dieser Beihilfe würdig mache. Damit wegen der vorher begangenen Sünden, deren Schuld er nicht tilgen kann, [er] sich nicht durch abergläubische Mittel zu befriedigen suchte, so wurde das Verdienst einer Person im Namen des menschlichen Geschlechts vorgestellt, damit der Mensch jetzt keine andre Genugtuung selbst suchte, als in einem ganz neuen Lebenswandel.«239

Diese Reflexion entspricht dem Inhalt eines Briefes, den Kant am 28. April 1775 an Johann Caspar Lavater schrieb, dem einzigen aller von Kant erhaltenen Briefe übrigens, in dem er sich offen, ausführlich und prägnant über seine religionsphilosophische Position äußert. Bezeichnend an diesem Brief ist zunächst, dass Kant sich in ihm religiös nicht so sehr auf der Linie der Griechen, sondern des alttestamentlichen Hiob liegend begreift.240 Hiob steht beispielhaft für einen freien und aufrechten Glauben, aber sicher auch für die in der griechischen Philosophie fehlende Anerkennung des Skandalon, dass ein Lasterhafter in diesem Leben glücklich bzw. ein Tugendhafter in diesem Leben unglücklich sein könnte.241

»Sie verlangen mein Urteil über Ihre Abhandlung vom Glauben und dem Gebete. Wissen Sie auch an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor [= für] ein Verbrechen hält Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu tun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüt nicht in freiem Glauben zusammenstimmt.«242

Bemerkenswert ist ferner, dass Kant genau »die Lehre Christi von der Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben«243 unterschieden, den moralischen Glauben, »welchen ich im Evangelio fand«, von seiner Vermischung mit »Factis und offenbarten Geheimnissen«244 und »den neutestamentlichen Satzungen«245 getrennt wissen will. Die »Lehre Christi«

»ist gewiss die Grundlehre des Evangelii, das Übrige kann nur die Hilfslehre desselben sein, weil die Letztere nur sagt: was Gott getan um unserer Gebrechlichkeit in Ansehung der Rechtfertigung vor ihm zu Hilfe zu kommen, die Erstere aber, was wir tun müssen, um uns alles dessen würdig zu machen.«246

Die »Grundlehre« wird charakterisiert als »die Lehre des guten Lebenswandels und der Reinigkeit der Gesinnungen im Glauben«.247 Und der Glaube als »das unbedingte Zutrauen auf die göttliche Hilfe«248 hat zum zentralen Inhalt,

»dass bei der Heiligkeit seines Gesetzes und dem unüberwindlichen Bösen unseres Herzens, Gott notwendig irgendeine Ergänzung unsrer Mangelhaftigkeit in den Tiefen seiner Ratschlüsse verborgen haben müsse, worauf wir demütig vertrauen können, wenn wir nur so viel tun als in unseren Kräften ist, um derselben nicht unwürdig zu sein«,249 »die uns zu wissen [aber] gar nicht nötig ist«.250

Unter »neutestamentlichen Satzungen« versteht Kant »alles, wovon man nur durch historische Nachricht Überzeugung bekommen kann und was gleichwohl zur Konfession oder Observanz als eine Bedingung der Seligkeit anbefohlen wird«.251 Derartiges zu gebieten widerspricht der »reinen Religion« und fällt unter den Begriff »gottesdienstlicher Bewerbungen, darin zu aller Zeit der Religionswahn bestanden hat«.252 Was »die Wunder und eröffneten Geheimnisse« betrifft, so mag solches »nötig gewesen sein, um eine so reine Religion […] bei dem Widerstande, den sie am Judentum fand, zuerst einzuleiten und unter einer großen Menge auszubreiten«. Dabei mag ihre »Nachricht« jetzt noch »in einigen Gemütern ein Hilfsmittel sein«. Aber seine »Seel und Seligkeit darauf zu verschwören« ist, gegenüber bloßen »Nachrichten«, die sie sind, unsinnig und dem einmal erreichten Standpunkt des Vernunftglaubens abträglich. »Ich bin den Zeiten, von welchen sie her sind, nicht nahe genug, um solche gefährliche und dreiste Entscheidungen zu tun. Überdem kann mich das nicht im Mindesten der Zuneigung dieses Guten, wenn ich es auch gewiss wüsste, würdiger machen: dass ich es bekenne, beteuere und meine Seele damit anfülle.«253

Jesus ist für Kant der Weise des Evangeliums, der in den überkommenen frühchristlichen Zeugnissen idealisierte Lehrer der reinen Religion der Vernunft und des Herzens. Was Kant an Einstellung und Inhalt seines aufgeklärten Vernunftglaubens für wesentlich christlich hält, mag hier abschließend die wohl klarste und konzentrierteste religionsphilosophische Reflexion (aus den Jahren 1776 bis 1778) verdeutlichen:

»Der Lehrer des Evangelii setzte mit Recht zum Grunde, dass die zwei principia des Verhaltens, Tugend und Glückseligkeit, verschieden und ursprünglich wären. Er bewies, dass die Verknüpfung davon nicht in der Natur (dieser Welt) liege. Er sagte, man könne sie jedoch getrost glauben. Aber er setzte die Bedingung hoch an und nach dem heiligsten Gesetz. Zeigte die menschliche Gebrechlichkeit und Bösartigkeit und nahm den moralischen Eigendünkel weg (Demut) und, indem er das Urteil dadurch geschärft hatte, so ließ er nichts übrig als Himmel und Hölle, das sind: Richtersprüche nach der strengsten Beurteilung. Er nahm noch alle unmoralischen Hilfsmittel der Religionsobservanzen weg und machte dagegen die Gütigkeit Gottes in allem dem, was nicht in unseren Kräften ist, zum Gegenstande des Glaubens, wenn wir so viel als in unsern Kräften mit Aufrichtigkeit zu leisten bestrebt sind. Er reinigte die Moral also von allen nachsichtlichen und eigenliebigen Einschränkungen. Das Herz von moralischem Eigendünkel. Die Hoffnung der Glückseligkeit von phantastischen Aussichten. Den Begriff der Gottheit von den schwachen Begriffen nachsichtlicher Gütigkeit, imgleichen dem dienstbedürftigen Willen Observanzen zu verlangen, von kindlichem Leichtsinn leerer Hoffnung und von knechtischer Furcht kriechender Andächtelei und gab ihm Heiligkeit des Willens als die Norm der Gütigkeit seiner Absichten. Folglich wurde die Moral mit einer Stütze versehen, worauf sich alle Hebel, die das Herz bewegen sollen, fest stützen, aber zugleich rein, ohne Beimengung der eigennützigen Absichten oder fremdartiger Ersetzungsmittel.«254

Was Kant in den 70er Jahren für sich und in einem persönlichen Brief an Lavater formulierte, wird er in seiner späten Religionsschrift von 1793 im Wesentlichen bestätigen und veröffentlichen.

134 Vgl. KpV V, 71–89.

135 KpV V, 109.

136 KpV V, 114.

137 Die Beschränkung der Idee des höchsten Guts auf seine (negative, die Angst vor definitivem Glücksverlust aufhebende) Motivationsrolle für die Befolgung des moralischen Gesetzes durch manche Interpreten ist also wohl verkürzt und trifft nicht die ganze Tragweite des »reinen Vernunftglaubens« für den objektiv-praktischen Sinn und die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes für den Menschen. Vgl dazu etwa Habermas, Jürgen 2019, Bd. 2, 298–374, der in Kants Moralphilosophie einen »methodischen Atheismus« am Werk sieht und in seinem Vernunftglauben lediglich dessen Motivationsrolle wahrzunehmen vermag. Er verkennt, wenn ich das richtig sehe, die Bedeutung der ethikotheologischen Sinndimension, die Kant mit dem moralischen Selbstverständnis verbindet. Vgl. dazu vor allem die Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft der KdU.

138 KpV V, 109 f.

139 Rel. VI, 5.

140 Siehe unten Kap. VIII.

141 Rel. VI, 3.

142 MdS VI, 487.

143 KpV V, 142 f.

144 R. 6499, S. 35.

145 Vgl. R. 6876, S. 188.

146 Halle-Magdeburg 1760, zusammen mit Kants Reflexionen abgedruckt in Bd. XIX der Akademie-Ausgabe.

147 R. 6892, S. 296.

148 Vgl. R. 6832 S. 174.

149 R. 6872, S. 187.

150 R. 6876, S. 188.

151 Initia §§ 168 und 169.

152 R. 6560, S. 77.

153 R. 6563, S. 78.

154 R. 6584, S. 94 ff.; vgl. R. 6583, S. 94; R. 6601, S. 104 u. ö.

155 R. 6584, S. 95.

156 R. 6601, S. 104.

157 R. 6607, S. 106.

158 R. 6876, S. 188 f. Es ist dies eine Beschreibung der epikureischen Position, die der späteren Bestimmung des radikal Bösen (in der Relgionsschrift) entspricht.

159 R. 6584, S. 96.

160 R. 6607, S. 106.

161 R. 6602, S. 104.

162 R. 6584, S. 96.

163 R. 6607, S. 106.

164 R. 6607, S. 106.

165 R. 6605, S. 106.

166 R. 6619, S. 112.

167 R. 6598, S. 103.

168 R. 6619, S. 112 f.

169 R. 6621, S. 114.

170 R. 6560, S. 77.

171 R. 6619, S. 112 f.

172 R. 6606, S. 106.

173 R. 6621, S. 114.

174 R. 6620, S. 114.

175 R. 6612, S. 114 f.

176 Vgl. dazu Forschner, Maximilian 2000, 21–42; ders., 1977, 192–203.

177 R. 7202, S. 278.

178 Ebd.

179 R. 7202, S. 277.

180 R. 7202, S. 279.

181 R. 7202, S. 277.

182 R. 6794. Stillschweigend vorausgesetzt, dass die Natur dabei mitspielt.

183 R. 6892, S. 196.

184 R. 6867, S. 186.

185 R. 6867, S. 168.

186 R. 6838, S. 176. Wie dann die KdU in der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft zeigen wird, ist das moralische Selbstverständnis untrennbar mit der gläubigen Hoffnung auf eine von Gott gestiftete sinnvolle Weltordnung im Ganzen verbunden, und zwar derart, »dass Kant offenbar mit dieser ja durchaus selbst moralisch begründeten Sinndimension auch deren moralisches Fundament in Frage gestellt sah« (Langthaler, Rudolf 2014, Bd. 1, 478).

187 R. 6590, S. 98.

188 R. 6630, S. 118.

189 R. 6876, S. 189.

190 Vgl. R. 6876, S. 188.

191 R. 6838, S. 176.

192 R. 6883, S. 191.

193 R. 6843, S. 177.

194 Vgl. R. 6615, S. 111.

195 R. 6858, S. 181.

196 Kant hat da sicher auch Rousseaus Unterscheidung von amour de soi und amour propre vor Augen.

197 Vgl. R. 6894, S. 198.

198 R. 6843, S. 177.

199 R. 6844, S. 177.

200 R. 6628, S. 117.

201 R. 6629, S. 118.

202 R. 7097, S. 248.

203 R. 7279. S. 301.

204 R. 7108, S. 250.

205 R. 7059, S. 237 f.

206 Vgl. R. 7097, S. 248.

207 Vgl. R. 7202, S. 280 f.

208 Vgl. R. 7094, S. 248.

209 Vgl. R. 7281, S. 301.

210 R. 6560, S. 77.

211 R. 6838, S. 176.

212 R. 6858, S. 181.

213 R. 6674, S. 130.

214 R. 6634, S. 120.

215 R. 6606, S. 106.

216 R. 7110, S. 250; vgl. R. 7102, S. 249.

217 R. 7110, S. 250.

218 Vgl. R. 7109, S. 250; R. 7111, S. 251; R. 7114, S. 251 f.

219 R. 7280, S. 301.

220 R. 7281, S. 301.

221 R. 6601; R. 6974; vgl. R. 6638.

222 Das »Zutrauen« dürfte sich auf den Vernunftglauben beziehen.

223 Gemeint sind wohl die bereits erwähnten motiva auxiliaria.

224 R. 6864, S. 185.

225 R. 6866, S. 185 f.

226 Vgl. R. 6601; R. 6611, S. 108 f.

227 R. 6842, S. 177.

228 R. 6894, S. 198 f.

229 R. 6832, S. 174

230 R. 6872, S. 187.

231 R. 6882, S. 191.

232 R. 6839, S. 176 f.

233 R. 6838, S. 175.

234 R. 7094, S. 248.

235 R. 6753, S. 148.

236 R. 7093, S. 247.

237 R. 8097, S. 641, aus der Zeit von 1792 bis 1794. Was den Begriff des Endzwecks betrifft, so ist, auf der Basis des moralischen Selbstverständnisses, zu unterscheiden (a) zwischen dem Menschen (allein aufgrund seiner Anlage zur Persönlichkeit) als real existierendem Endzweck der Schöpfung (KrV B 425; A 840/B 868), (b) dem ihm durch seine Vernunft aufgegebenem praktischen Endzweck (die Beförderung des höchsten durch Freiheit möglichen Guts in der Welt, KdU V, 195 f.; 450) und (c) dem Endzweck der Welt als »Endabsicht Gottes« bezüglich der Schöpfung bzw. als von der praktischen Urteilskraft vorausgesetztem Sinn des Weltganzen (eine den höchsten sittlichen Zwecken angemessene Welt), die einen »allgenugsamen«, verständigen und moralischen Gott zum Urheber hat (KdU V, 441; 477).

238 R. 8092, S. 637 aus der Zeit von 1788 bis 1790.

239 R. 8086, S. 629.

240 So auch nachdrücklich in R. 8089, S. 632 f.

241 Vgl. dazu die späte markante Reflexion 7314, S. 310 f.

242 AA X, Brief 99, S. 176.

243 Ebd.

244 Ebd., S. 177.

245 Ebd., S. 176.

246 Ebd.

247 Ebd., S. 177.

248 Ebd., S. 178.

249 Ebd., S. 176

250 Ebd., S. 177.

251 Ebd., S. 178.

252 Ebd., S. 177.

253 Ebd.

254 R. 7060, S. 238 f.

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