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4.1 Entwicklung und Struktur

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Bei der Beschreibung der typischen Entwicklung und der psychogenen Pathologien wurde ausführlich dargestellt, dass eine einigermaßen ungestörte Kindheit und Jugend die Voraussetzung für seelische Gesundheit im Erwachsenenalter ist. Umgekehrt bilden Beeinträchtigungen der Entwicklung ein beträchtliches Risiko für die spätere Gesundheit und prädisponieren zu neurotischen Erkrankungen. Für das Verständnis dieser Zusammenhänge sind drei Aspekte bedeutungsvoll:

• Die einzelnen Phasen im Entwicklungsprozess sind mit phasenspezifischen Bewältigungsaufgaben verknüpft.

Die seelische Entwicklung, d. h. die Entfaltung und Ausdifferenzierung der Persönlichkeit, wird von seelischen, körperlichen und sozialen Reifungsprozessen getragen, die einen phasenhaften Verlauf haben. In Kapitel 2.3 ( Kap. 2.3) wurden einzelne Stränge der Entwicklung beschrieben. Dabei wurde erkennbar, dass die seelische Entwicklung zum großen Teil auf einer voranschreitenden Entfaltung und Ausformung von zunächst nur im Keim vorhandenen Anlagen beruht, die man als Funktionsreifung bezeichnen kann. In Kapitel 2.2 wurden das Zusammenspiel der Teilentwicklungen und die daraus resultierenden Entwicklungspositionen und Bewältigungsaufgaben aus der Verlaufsperspektive dargestellt.

• Jede Entwicklungsphase ist durch charakteristische Bewältigungsstrategien und Ergebnisse ausgezeichnet.

Entwicklung und Reifung stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Einerseits fordert der Entwicklungsprozess zur Bewältigung phasenspezifischer Aufgaben heraus, andererseits bestimmen der biologische Reifegrad und der Entwicklungsstand der Persönlichkeit darüber, mit welchen psychischen Mitteln und in welchen Modi die Herausforderungen gemeistert werden können. Es ist zum Beispiel ein großer Unterschied, ob ein Konflikt mit Hilfe der Spaltungsabwehr oder der Verdrängungsabwehr bewältigt wird oder ob Erinnerungen prozedural oder deklarativ verarbeitet und im impliziten oder im expliziten Gedächtnis aufbewahrt werden.

• Im Aufbau einer psychogenen Störung, d. h. in ihrer Struktur und Funktion, spiegelt sich der Reifegrad und Entwicklungsstand der Persönlichkeit, d. h. das Organisationsniveau, das zum Zeitpunkt der zentralen Entwicklungsstörung erreicht worden war.

Störungen der Entwicklung beruhen darauf, dass bestimmte Erlebnisse, Erfahrungen und Konflikte in einem bestimmten Stadium der Entwicklung nicht bewältigt und gelöst werden können. Das führt dazu, dass die nicht verarbeiteten Erfahrungen in chiffrierter Form als pathogener Kern erhalten bleiben – als ein Entwicklungsdefizit, ein verdrängter Konflikt oder als ein abgekapseltes Introjekt ( Kap. 2.2.2). Außerdem werden die Ichfunktionen, die damit verbunden sind, fixiert. Das äußert sich in der Art der späteren Bewältigungs- und Abwehrstrategien sowie im Integrations- und Differenzierungsvermögen des Ich und im Ausmaß der Integration der Persönlichkeit. Zusammen bilden diese Elemente eine Pathologie, die durch habituelle Verhaltensmuster überformt und zur neurotischen Persönlichkeit weiterentwickelt wird.

Die Art der Bewältigung der zentralen Entwicklungspositionen, von frühen Traumatisierungen, Entwicklungskrisen und Konflikten formt die Struktur der Persönlichkeit und der darauf aufbauenden psychogenen Störungen. Sie prägt die gesamte seelische Organisation. Die frühen Erfahrungen beeinflussen auf diese Weise die Ausgestaltung des Bedürfnis-, Gefühls- und Beziehungserlebens und damit die Perspektive, aus der heraus das Leben erlebt und bewältigt wird.

Dieser Zusammenhang zwischen der entwicklungsdynamischen, der strukturellen und der funktionalen Dimension der Persönlichkeitsorganisation ist gemeint, wenn im Folgenden von Strukturniveau gesprochen wird. Es wird in der Strukturdiagnostik erfasst ( Tab. 4.1). Die Begriffe Strukturniveau, strukturelles Entwicklungsniveau und Persönlichkeitsorganisation werden dabei synonym verwendet.

Dieser Ansatz wurde systematisch zuerst von Otto F. Kernberg vertreten. Er beschrieb ein neurotisches, ein höheres borderlinehaftes, ein niederes borderlinehaftes sowie ein psychotisches Organisationsniveau der Persönlichkeit.112

Dieses Buch stützt sich auf seinen Ansatz und geht von den Polen einer höher strukturierten neurotischen und einer niederstrukturierten Borderline-Persönlichkeitsorganisation aus. Sie werden hier als höheres und niederes Strukturniveau bezeichnet. Es beschreibt im Übergangsbereich dazwischen ein mittleres Strukturniveau. Es ist durch das gemeinsame Auftreten und Zusammenwirken von frühen und reifen Organisationsmustern gekennzeichnet und charakterisiert die präödipale Persönlichkeitsorganisation. Diese Kategorie erscheint geeignet, die Vielzahl von Störungen zwischen Konflikt- und Entwicklungspathologie zu erfassen, die den größten Teil der Behandlungsaufgaben in der psychotherapeutischen Praxis ausmachen. Daneben wird kurz auch eine reife, nicht-neurotische Persönlichkeitsorganisation beschrieben.

Tab. 4.1: Übersicht über die Strukturdiagnostik


Psychotherapie und Psychosomatik

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