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aa) Art, Stil und Methoden der Auslegung
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Eine dem europäischen Rechtsraum adäquate Auslegung würde erfordern, dass sich die Verfassungsgerichte nicht nur auf eine Auslegung nach dem Wortlaut beschränken, sondern auch systemische und teleologische Betrachtungen anstellen. Vor allem letztere stellen eine Brücke dar, die die Übersetzung von nichtrechtlichen Überlegungen in rechtliche fördert.[186] Teleologische Argumente erlauben die nötige Flexibilität, um neuen gesellschaftlichen Herausforderungen ohne Verfassungsänderung zu begegnen; sie sind insbesondere in der Verhältnismäßigkeitsprüfung sozusagen impliziert, denn wie kann sonst die zwingende „Notwendigkeit“ in einer demokratischen Gesellschaft beurteilt werden.
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In den post-jugoslawischen Staaten findet man dazu zahlreiche, oft widersprüchliche Äußerungen. Um mit der Selbstdarstellung zu beginnen, so sind in diesem Zusammenhang in erster Linie die Berichte zur 14.[187] und 17.[188] Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte von Interesse, von denen erstere gesetzgeberische Lücken und letztere verfassungsrechtliche Grundsätze behandeln. Daraus ergibt sich, was Gesetzeslücken betrifft, ein deutlich formalistisch-positivistisches Bild der mazedonischen, serbischen, montenegrinischen und kroatischen Gerichte, da sie im Prinzip davon ausgehen, dass allein der Gesetzgeber solche Lücken füllen kann und soll und dass sie selbst weder berufen sind, das Vorliegen einer Lücke als verfassungswidrig anzusehen noch Lücken zu füllen. Das bosnisch-herzegowinische und das slowenische Verfassungsgericht geben offener zu, dass sie manchmal solche Lücken prüfen. Vor allem wenn es zu verfassungswidrigen Konsequenzen kommt, heben sie entweder das besagte Gesetz auf oder erklären es für verfassungswidrig unter Festlegung einer Frist zur Nachbesserung.[189] Sei es weil diese Konferenz aktueller war oder weil Fortschritte für erforderlich gehalten wurden, nähert sich die Selbstdarstellung im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze jedenfalls den europäischen Standards. Alle Gerichte beteuern, dass solche Grundsätze, insbesondere Verhältnismäßigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Gewaltenteilung, wichtig sind und angewendet werden. Allerdings gibt es auch da Nuancen: für manche sind die Grundsätze nur eine Interpretationshilfe,[190] für andere normative Bestimmungen.[191] Das kroatische Gericht geht sogar so weit, sich als Ziel den Ausgleich zwischen den normativ vorgegebenen Werten und den positivgesetzlichen Regeln zu setzen und von einer „unvollkommenen“ Rechtsordnung zu sprechen.[192]
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Von außen betrachtet können drei Gruppen ausgemacht werden: die erste hält noch heute überwiegend an „textualistischen“ Methoden fest; die zweite zeigt eine beträchtliche Wandlung in Richtung des europäischen Rechtsraums und die dritte bewegt sich schon länger, allerdings nicht ohne Rückschläge, innerhalb dieses Raums. Zur ersten Gruppe gehören, was wenig überraschen mag, Mazedonien und Montenegro. Es ist bezeichnend, dass die Verfassungsgerichte dieser Länder die verfassungskonforme Interpretation nicht kennen. Im Übergang zur zweiten Gruppe befindet sich Serbien, wo zwar das Verfassungsgericht noch immer die textgebundene Interpretation bevorzugt, aber doch Anfänge eines Wandels zu bemerken sind: die Betonung von Grundsätzen und Werten, eine gewisse Berücksichtigung von soft law und sogar des acquis communautaire.[193] In die zweite Gruppe gehört Kroatien. Hier ist seit 2000 und noch deutlicher seit 2008 eine beträchtliche Veränderung eingetreten. Vorher scheute sich das Verfassungsgericht, die Passivität des Gesetzgebers zu rügen und sich damit in die Kompetenzen des Gesetzgebers einzumischen. Inzwischen hat sich der allgemeine Stil der Auslegung von einer „mikroskopischen“ zu einer holistischen Betrachtungsweise gewandelt: verfassungsrechtliche Grundsätze werden aufgewertet, vielleicht sogar überbewertet, die Beachtung des substanziellen Verfassungsrechts mit einem Verfassungskern sowie einer verfassungsrechtlichen Identität werden zu einem wesentlichen Anliegen des Verfassungsgerichts.[194] Zur dritten Gruppe gehören Slowenien, der Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Hier stellt der Rückgriff auf Grundsätze und Werte sowie die Betonung des substanziellen und nicht nur des formellen Verfassungsrechts schon fast eine Tradition dar, auch wenn regelmäßig Rückfälle zu verzeichnen sind und auch wenn die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu wünschen übriglässt. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass das slowenische Verfassungsgericht sich lange gesträubt hat, extra-legale Gesichtspunkte in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen,[195] dann aber doch unter dem Druck der Finanzkrise und der Drohung schwindender Regierungsstabilität zuerst akzeptierte, die Dringlichkeit einer Reform und dann auch die Glaubwürdigkeit des Staates in seine Bewertung einzuschließen.[196] Es scheut sich jedoch noch immer zu prüfen, ob die gesetzlichen Bestimmungen notwendig und geeignet sind. Dies kann umso mehr verwundern, als das Verfassungsgericht anderweitig die grundsätzliche Pflicht des Gesetzgebers zur Anpassung an die sozialen Verhältnisse statuiert.[197]