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aa) Oppositionelle Strategien: allgemeine Trends im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina

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Die Verfassungsgerichte von Bosnien-Herzegowina und Kosovo operieren in tief gespaltenen Gesellschaften mit konsensdemokratischen Zügen, geprägt von einem zersplitterten Vielparteiensystem und daher vielfältigen Koalitionen. Sie haben sich nicht gescheut, den politischen Eliten in wichtigen Fragen zu widersprechen.

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Eine der ersten Entscheidungen[108] des kosovarischen Verfassungsgerichts inszeniert einen spektakulären Akt von Opposition. Es handelte sich um eine Anklage gegen den Staatspräsidenten wegen schwerer Verfassungsverletzung. Das Gericht hat die Beschwerde sowohl für zulässig als auch für begründet erklärt, obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, beides zu verneinen. Das Urteil erging somit gegen die führende Partei und die politische Mehrheit. Es löste den Rücktritt des Präsidenten, ein Misstrauensvotum im Parlament, eine Parlamentsauflösung und Neuwahlen aus. Die darauffolgende Neuwahl des Präsidenten durch das Parlament wurde ebenfalls vom Verfassungsgericht gerügt wegen der Nichtbeachtung des vorgegebenen Quorums und des Fehlens eines zweiten Kandidaten.[109] Nachdem sich daraufhin Mehrheit und Opposition auf eine Konsens-Kandidatin geeinigt hatten, wollte das Parlament eine Direktwahl durch das Volk sowie eine Verkürzung der Amtszeit einführen und dies rückwirkend auf die bereits gewählte Präsidentin anwenden. Auch dies scheiterte am Verfassungsgericht, das von seiner Kompetenz, Verfassungsänderungen vor ihrer Verabschiedung auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu überprüfen, Gebrauch machte.[110] Nach seiner Auffassung verstieß die vorzeitige Beendigung des präsidentiellen Mandats gegen die Gewaltenteilung und das Prinzip der Rechtssicherheit.

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In Bosnien-Herzegowina sind Koalitionen sowohl auf der zentralen als auch auf den regionalen und kantonalen Ebenen unvermeidlich und Mehrheiten dementsprechend relativ oder heterogen. Dem richterlichen Aktivismus sind somit engere Grenzen gesetzt als im Kosovo. Zu den üblichen politischen Divergenzen kommen hier auch territoriale und ethnische Spannungsfaktoren. Das territoriale Element findet seinen Ausdruck in einer föderalistisch anmutenden Organisation. Der Zentralstaat ist in zwei Einheiten („Entities“) gegliedert, die RS und die bosniakisch-kroatische Föderation; außerdem gibt es noch den international verwalteten Distrikt von Brćko. Der Bundesstaat erweist sich als äußerst schwach: Territorialität und Ethnizität hindern weitgehend seine Entfaltung. Die Ethnizität ist in den drei in der Präambel genannten „konstitutiven Völkern“, den Bosniaken, den Kroaten und den Serben, verkörpert, die sich unter Ausschluss der sogenannten „Anderen“[111] die staatliche Macht teilen. Trotz allem hat das Verfassungsgericht wichtige Weichen gestellt, manchmal gegen die gesamte politische Elite; so vor allem bei seiner Bemühung, die sogenannten konsozialen oder konkordanzdemokratischen Elemente („power sharing“) gegenüber dem Prinzip der repräsentativen Demokratie unter Kontrolle zu halten. In diesem Zusammenhang erscheint das im Jahr 2000 ergangene Urteil über die „konstitutiven Völker“ noch immer grundlegend.[112] Dort wird sehr deutlich die grundsätzliche, kollektive Gleichheit der drei konstitutiven Völker auf dem gesamten Territorium von Bosnien-Herzegowina betont und somit ein Vorrang der Ethnizität vor der Territorialität statuiert. Daraus folgt, dass die beiden territorialen Gebietseinheiten, die Föderation von Bosnien-Herzegowina und die RS, keine Basis für ethnische Privilegien sein dürfen. Mit gewissen Schwierigkeiten und auch Konzessionen hat das Gericht versucht, diese Linie durchzuhalten.

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