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aa) Wichtige Inhalte im Hinblick auf verfassungsrechtliche Grundsätze
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Wichtige Inhalte verfassungsgerichtlicher Urteile betreffen die Werte, Strukturen oder die wesentlichen Akteure der jeweiligen Ordnung.
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Für den Kosovo sind in diesem Zusammenhang die bereits erwähnten den Staatspräsidenten betreffenden Entscheidungen von 2010 bis 2012 zu nennen.[139] Hier soll exemplarisch nur die erste Entscheidung[140] kurz umrissen werden. Sie betraf die Ämterhäufung des Staatspräsidenten, der gleichzeitig auch Parteivorsitzender war. Nachdem das Gericht die verfassungsrechtliche Stellung des Präsidenten als unabhängige und einheitsstiftende Institution dargelegt hatte, stellte es fest, dass der Präsident trotz des offiziellen Einfrierens seines Parteivorsitzes de facto die Partei weiter geleitet habe. Dies stelle eine schwere Verletzung der Verfassung dar, die eine Amtsenthebung nach sich ziehen müsse. In diesem und weiteren spektakulären Fällen wäre es jedes Mal möglich gewesen, die Klage als unzulässig abzuweisen.[141] Das Gericht ist jedoch als Hüter der Verfassung und auch als Schiedsrichter aufgetreten;[142] es hat die verschiedenen Akteure angemahnt, ihre Funktionen nicht zu überschreiten. Die rechtsstaatlichen und demokratischen Dimensionen dieser Urteile sind offensichtlich, selbst wenn sie durch eine teilweise akrobatische Auslegung erreicht wurden.
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Auch in Bosnien-Herzegowina war das Wahlrecht bezüglich des Präsidiums und des Völkerhauses Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Die Klage griff zunächst die verfassungsrechtlichen Bestimmungen selbst[143] wegen Verletzung der EMRK[144] aufgrund der Beschränkung des passiven Wahlrechts der „Anderen“ an. Die „Anderen“, also diejenigen, die sich nicht mit einem der drei konstitutiven Völker identifizieren, können in der Tat wegen der bestehenden ethnischen Quoten weder in das Präsidium noch in das Haus der Völker gewählt werden.[145] Der Beschwerdeführer behauptete sowohl, dass die Wahlen unter diesen Umständen den Willen des Volkes nicht ausdrückten, als auch, dass die „Anderen“ diskriminiert und von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen seien. Dieser Fall bereitete dem Verfassungsgericht große Probleme, denn zunächst hätte es seine Kompetenz zur Prüfung der Verfassung selbst akzeptieren und sodann der EMRK Vorrang vor der Verfassung zugestehen müssen. Das Gericht war der Auffassung, dies gehe über seine Rolle und seine Zuständigkeit hinaus und wies die Klage ab. In der Begründung hat es darauf verwiesen, dass die EMRK in der bosnischen Rechtsordnung dank der Verfassung direkt anwendbar sei und Vorrang vor einfachen Gesetzen habe. Kurz darauf wurde dieselbe Klage gegen das einfachgesetzlich geregelte, aber wie in der Verfassung formulierte Wahlrecht eingereicht. Das Gericht hat auf sein vorausgehendes Urteil verwiesen, die Identität der verfassungsrechtlichen und der gesetzlichen Bestimmungen zum Wahlrecht betont und daher die Beschwerde mit derselben Begründung verworfen.[146] In einem ähnlichen Fall[147] hat es die Beschwerde zwar angenommen, sie aber mit dem Hinweis auf die noch immer notwendigen besonderen ethnischen Vorkehrungen in Bosnien-Herzegowina als unbegründet abgewiesen. Als sich dann der EGMR mit dem Fall Sejdic und Finci befasste, votierte er mehrheitlich für eine Verletzung des 12. Zusatzprotokolls. Der Gerichtshof erklärte insbesondere, die ethnischen Quoten stellten nicht unbedingt eine Konventionsverletzung dar, deshalb werde nicht ihre Aufhebung von Bosnien-Herzegowina verlangt, sondern lediglich eine Änderung unter Berücksichtigung der Minoritäten;[148] also eine Integration der „Anderen“ in das Quotensystem. Das Verfassungsgericht hat sich hier zwar als Hüter der Verfassung verhalten, aber doch die Gelegenheit verpasst, zur Demokratisierung beizutragen. Anscheinend war ihm der innenpolitische Konsens wichtiger.
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Das serbische Verfassungsgericht hat in erster Linie das parlamentarische repräsentative Mandat geschützt und eine mutige Auslegung gewagt, die zwar einer verfassungsrechtlichen Bestimmung widersprach, aber der Bewahrung der demokratischen Grundsätze diente. Es handelte sich um die Befugnis der politischen Parteien, ihren Mitgliedern das parlamentarische Mandat zu entziehen, falls diese die Partei wechselten. Die sogenannten blank resignations dienten als Instrument für eine Kontrolle durch die Parteien, die das Verfassungsgericht in mehreren Entscheidungen für verfassungswidrig erklärte. Diese Urteile sind umso mehr zu begrüßen als das serbische Verfassungsgericht grundsätzlich sicher nicht als aktivistisch bezeichnet werden kann. Sie erscheinen außerdem besonders wichtig, weil sie sowohl eine deutliche Absage an ein fortlebendes Relikt sozialistischer Rechtskultur ausdrücken, als auch der Demokratie dienen. Hier steht die Rolle als Gründer einer neuen Ordnung im Vordergrund und die als Verfassungshüter im Hintergrund. Gleichwohl bedurfte es der Unterstützung der Venedig-Kommission und der europäischen Kommission, um diese Entscheidungen durchzusetzen.[149]
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In Mazedonien ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Lustrationsgesetzgebung[150] aus den Jahren 2010-2012 zu nennen, die zur Aufhebung zahlreicher Bestimmungen geführt hat. Auf diese Weise wurde der Lustrationsprozess weitgehend gestoppt, was im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz eher positiv, aber aus der Perspektive der Transformation eher negativ zu bewerten ist. Es gelang jedoch der Regierung, ein neues Gesetz mit gleichen bzw. ähnlichen Vorschriften wie die vom Verfassungsgericht aufgehobenen durchzusetzen. Dieses Gesetz wurde 2014 für verfassungskonform erklärt;[151] diese widersprüchliche Rechtsprechung ist möglicherweise auf die veränderte Besetzung des Gerichts zurückzuführen. Aktivismus, wie der des mazedonischen Verfassungsgerichts, macht wenig Sinn, da er zur Demokratisierung nicht beiträgt, sondern vor allem das Verfassungsgericht diskreditiert. Auch die 2016 bezeugte Bereitschaft des Verfassungsgerichts, die präsidentiellen Zuständigkeiten für Begnadigungen erheblich zu erweitern[152] zeigen wenig Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze und lassen an der Fähigkeit des Gerichts, die Rolle eines Hüters der Verfassung oder des Gründers einer neuen Ordnung zu übernehmen, zweifeln.
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In Kroatien und Slowenien ging es hauptsächlich um die Harmonisierung von direkter und repräsentativer Demokratie. In beiden Ländern haben Mechanismen direkter Demokratie einen solchen Umfang erreicht, dass die Verfassungsgerichte nicht nur in ihrer Rolle als Schiedsrichter, sondern auch als Hüter und Gründer der neuen Rechtsordnung auf den Plan gerufen wurden. In beiden Ländern ist nämlich das Verfassungsgericht für eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Volksbegehren zuständig.[153] Dies ist wohl dem slowenischen Gericht – nicht zuletzt wegen ausführlicherer textlicher Grundlage in der Verfassung, dennoch mit Schwierigkeiten – besser gelungen als seinem kroatischen Pendant. Dazu möchte ich die slowenische Rechtsprechung zur Rentenreform[154] darstellen, in der die gegensätzlichen Argumente beider Seiten sehr deutlich zum Ausdruck kommen. Auf der einen Seite begründete das Parlament die Rentenreform im Bewusstsein der fortschreitenden Finanzkrise mit der Bedrohung des bestehenden Rentensystems und dem daraus erwachsenden Risiko der Beeinträchtigung einer Reihe anderer sozialer Rechte und der Erhöhung der Staatsverschuldung. Auf der anderen Seite hielt dem das Verfassungsgericht eine ganz andere Abwägung entgegen, wonach das Recht auf die Ausübung direkter Demokratie nur durch schwerwiegende verfassungsrechtliche Grundsätze beschränkt werden kann. Die Tatsache, dass es sich um zukünftige, das heißt nur potenzielle Bedrohungen handele, und dass diese Bedrohungen nicht in verfassungsrechtlichen Kategorien zu erfassen und daher, nach Ansicht des Gerichts, nicht überprüfbar seien, veranlasste das Gericht, den Volksentscheid zuzulassen. Die Reform konnte somit nicht in Kraft gesetzt werden, die Krise und auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärkte sich, so dass kurz danach die Regierung stürzte. Zeigt dieser Aktivismus die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und seine Bemühung, die Verfassung auch in Krisenzeiten textgetreu auszulegen, so erweist er sich doch auch als ineffizient und unproduktiv. Dies liegt wohl unter anderem daran, dass das Verfassungsgericht es trotz seiner ausführlichen Argumentation ablehnte, das wirtschaftliche und soziale Umfeld in verfassungsrechtliche Kategorien zu übersetzen. Die nächste Regierung musste dann an noch drastischere Reformen – nicht nur im Rentensystem – denken, wurde diesmal allerdings vom Verfassungsgericht unterstützt, das anscheinend begriffen hatte, welche Bedrohung die zahlreichen Anträge auf Volksentscheid für die parlamentarische Demokratie und die Grundrechte bedeutete. Dies könnte als schwerfälliger Beitrag zur Demokratie bezeichnet werden.