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a) Aktivismus als politische Opposition
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Aktivismus ist zweifellos ein Schlagwort in der Diskussion über die Verfassungsgerichtsbarkeit geworden, insbesondere in den „neuen Demokratien“.[102] Der Begriff ist mehrdeutig, da er sowohl deskriptiv konnotiert ist – das Gericht Y hat x Gesetze aufgehoben – als auch eine implizite Bewertung enthält: die Aufhebung von x Gesetzen übersteigt das „übliche“ Maß oder anders ausgedrückt: Aktivismus geht über die traditionelle richterliche Amtsausübung hinaus. Wo aber die Grenze zwischen „normaler“ gerichtlicher Funktion und Aktivismus verläuft, bleibt dabei unklar. Auch die Frage, wie Aktivismus zu bewerten ist: grundsätzlich positiv, weil er für Demokratisierung steht[103] oder grundsätzlich negativ, weil er die traditionelle Gewaltenteilung durchbricht, bleibt ungeklärt.[104] Beide Auffassungen werden in der Lehre vertreten. Dabei spielen vermutlich sowohl die gegenwärtig verbreiteten Ansichten über die Aufwertung der richterlichen Gewalt als auch die oft vertretene Annahme einer besonderen der Transformation eigenen Legalität eine Rolle.[105]
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Ferner tendiert diese – oft politikwissenschaftliche – Diskussion dazu, die rechtsimmanente Dimension geringzuschätzen.[106] Aktivismus ist nämlich auch mehr oder weniger in der Verfassung selbst und in der Ausgestaltung des Verfassungsgerichts angelegt. Es seien hier nur einige Aspekte kurz angemerkt: Die Art wie der Verfassungstext die Grundrechte konzipiert, ob er beispielsweise eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorsieht, auf völkerrechtliche Instrumente verweist oder wie er deren Schranken definiert, räumt dem Verfassungsgericht eine wichtigere oder weniger wichtige Position im Staatsgefüge ein. In Slowenien wird zum Beispiel gerichtlicher Schutz der Grundrechte garantiert, aber weder eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschrieben noch wird zur Auslegung der Grundrechte auf das internationale Recht verwiesen, während diese beiden Elemente in der kosovarischen Verfassung verankert sind.[107] Das slowenische Verfassungsgericht muss demnach aktivistischer agieren, um einen dem kosovarischen Standard gleichkommenden Grundrechtsschutz zu gewähren. Ähnliches gilt für die Verfassungsgerichtsorganisation. Die Stellung des Gerichts im Staat, Umfang und Vielseitigkeit seiner Kompetenzen sowie die Beschränkung oder die Öffnung des Zugangs zum Gericht zeichnen von vornherein ein eher zurückhaltendes oder eher aktivistisches Profil. In dieser Hinsicht könnte das bosnisch-herzegowinische Gericht für Zurückhaltung stehen und das serbische für Aktivismus; interessant ist dabei, dass sich in der politischen Realität das Bild fast genau umkehrt.
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Wenn im Folgenden versucht wird, den Grad oppositioneller Strategie in den verschiedenen Verfassungsgerichten auszumachen, so muss dabei doch immer der Verfassungstext mitgedacht werden, um den gerichtlichen Beitrag zu messen, der nicht im Text unmittelbar angelegt ist. Es wäre wohl ebenfalls verfehlt, ein Verfassungsgericht als rein aktivistisch oder ausschließlich regierungstreu zu etikettieren; es handelt sich hier allenfalls um allgemeine Trends. Unter diesem Vorbehalt sind drei Gruppen erkennbar: die erste „oppositionelle“ Gruppe besteht aus den Verfassungsgerichten Bosnien-Herzegowinas und des Kosovo; die zweite „gefolgschaftstreue“ Gruppe aus den Gerichten Serbiens, Montenegros und Mazedoniens; die dritte mittlere Gruppe bilden die Verfassungsgerichte Kroatiens und Sloweniens. Die im Folgenden vorgestellten Entscheidungen sind alle auch inhaltlich relevant: Sie stellen hard cases oder jedenfalls signifikante Fälle dar.