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cc) Zwischen Aktivismus und Zurückhaltung: allgemeine Trends in Kroatien und Slowenien
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In Kroatien halten sich Zurückhaltung und Aktivismus die Waage. War bis 2006 erstere vorherrschend, so hat sich das seitdem deutlich geändert. Die Zurückhaltung hat sich, wie in den Nachbarländern, durch die Strategie des Aufschiebens bemerkbar gemacht. So hat das Gericht 26 Jahre gebraucht, um die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung über den Schwangerschaftsabbruch zu prüfen.[121] Zudem hat es lange vermieden, das Bestehen von Regelungslücken als verfassungswidrig zu betrachten, und stattdessen dem Parlament Gutachten vorgelegt,[122] in denen es die Passivität des Gesetzgebers beklagte.
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Auf der anderen Seite hat es sich nicht gescheut, die Pensionsgesetzgebung für verfassungswidrig zu erklären, und damit sowohl die Regierung als auch das Parlament wegen der hierdurch verursachten Kosten sehr aufgebracht.[123] Seit 2010 zeigt sich auch eine aktivistische Seite des Gerichts, insbesondere in Entscheidungen zu Volksbegehren und -entscheiden. Eine Verfassungsänderung von 2000 hat Bürgerinitiativen auf allen staatlichen Ebenen gestattet, wenn 10% der Wahlberechtigten innerhalb von 15 Tagen die Initiative durch ihre Unterschrift unterstützen und 50% der Wahlberechtigten dem Entwurf zustimmen.[124] Da jedoch befürchtet wurde, dass der (obligatorische) Volksentscheid zum EU-Beitritt die 50%-Hürde nicht erreichen würde, wurde 2010 letztere Bedingung gestrichen. Auf diese Weise ist Kroatien von einem sehr restriktiven zu einem wesentlich großzügigeren Modell der direkten Demokratie übergegangen. Die Konsequenzen haben nicht lange auf sich warten lassen: der EU-Beitritt wurde zwar mit 66,3% der gültigen Stimmen angenommen, doch hatten lediglich 43,5% der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen. Zudem häuften sich nunmehr Bürgerinitiativen, die nicht von den politischen Parteien, sondern vornehmlich von der Zivilgesellschaft (Kriegsveteranen, Verbände, Gewerkschaften) ausgingen. Einzig das Verfassungsgericht war in der Lage, gemäß Artikel 95 VGG auf Antrag des Parlaments regulierend einzugreifen, indem es die Initiative analog zur abstrakten Normenkontrolle auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfte. Während alle anderen Begehren vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig angesehen wurden, war das Referendum über die verfassungsrechtliche Definition der Ehe[125] der einzig erfolgreiche Volksentscheid. In diesem Fall hat das Gericht den Volksentscheid gegen die politische Mehrheit durchgesetzt. In Anbetracht mangelnder parlamentarischer Anrufung hat es aus Eigeninitiative seine Zuständigkeit zur Prüfung der Initiative bekräftigt und dies sowohl mit der Wahrung der verfassungsrechtlichen Identität Kroatiens als auch mit der legislativen Passivität im Bereich der direkten Demokratie begründet.[126] Es befürwortete das konkrete Projekt mit dem Hinweis auf die tiefe Verankerung der heterosexuellen Ehe in den sozialen und kulturellen Strukturen Kroatiens, ohne die Tür für eine spätere gesetzliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu verschließen.
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Slowenien ist wohl die homogenste Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien. Das politische Kräftespiel ist durch ein polarisiertes Vielparteiensystem gekennzeichnet, in dem die Regierung durch oft wechselnde Koalitionen gebildet wird. Das Verfassungsgericht ist mit beträchtlicher Macht ausgestattet, doch durch sein Wahlverfahren weitgehend politisiert.[127] Daraus ergibt sich ein etwas komplexes Bild aus Zurückhaltung, Sachverstand und Aktivismus. Zurückhaltung drückt sich nicht wie in Serbien oder anfangs in Kroatien durch Aufschiebungs- oder Vermeidungsstrategien aus, sondern eher in offen regierungsfreundlichen Entscheidungen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das Verfassungsgericht ein gutes technisches Niveau erreicht hat, welches die politischen Präferenzen weitgehend zu verschleiern vermag.
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Der Aktivismus des slowenischen Verfassungsgerichts kam besonders stark zum Ausdruck im sogenannten Fall der „ausgestrichenen“ Bürger. Es handelt sich um Bürger der früheren SFRJ, die zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit ihren Wohnsitz in Slowenien hatten. Sie wurden zunächst aus dem Register der Staatsbürger gestrichen und später auch aus dem der permanent residierenden Ausländer. Das Verfassungsgericht hat sich mehrmals damit befasst; in zwei Entscheidungen hat es die Verfassungswidrigkeit dieser (Nicht-)Regelungen festgestellt und den Gesetzgeber aufgefordert, eine Erlaubnis für permanenten Wohnsitz rückwirkend zu gewähren.[128] Der Widerstand der parlamentarischen Mehrheit konnte allerdings erst durch eine Entscheidung des EGMR gebrochen werden.[129]
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Aktivismus offenbart sich ebenfalls in der reichhaltigen Rechtsprechung zu Volksentscheiden. In Slowenien sind Instrumente direkter Demokratie hoch entwickelt und weit verbreitet.[130] Auf nationaler Ebene wird insbesondere das Gesetzesreferendum praktiziert, welches bis 2013 fast unbegrenzt eingesetzt werden konnte und es vor allem der Opposition ermöglichte, über das Gesetzgebungsverfahren hinaus die Projekte der Regierung anzugreifen oder gar die Regierung zu stürzen. Diese missbräuchliche Praxis sollte durch die Verfassungsänderung von 2013 verhindert werden.[131] Nunmehr steht die Initiative für Volksentscheide nur noch den Bürgerinnen und Bürgern zu und nicht mehr den Abgeordneten. Ferner wurden gewisse Materien ausgeschlossen[132] und die Abstimmungen auf Gesetzesaufhebungen[133] beschränkt, sofern ein Fünftel der Stimmberechtigten dafür stimmt. Dem Verfassungsgericht ist die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Bürgerentscheide anvertraut. Von den vom Gericht zugelassenen Volksentscheiden[134] sind zwei exemplarisch für die „oppositionelle“ Haltung des Verfassungsgerichts in gesellschaftlich wichtigen Bereichen zu nennen: das Urteil über Renten[135] und das zum Familienrecht,[136] in denen das Verfassungsgericht jeweils gegen die parlamentarische Mehrheit entschieden hat.
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Vorsicht oder Regierungstreue dominieren dagegen in der übrigen Rechtsprechung bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Volksentscheiden. Die Mehrzahl dieser Abstimmungen wurde, gemäß den Wünschen des Parlaments, für verfassungswidrig erklärt und deswegen nicht zugelassen. Einen krassen Kontrast zwischen zunächst Regierungstreue, dann aber Einsatz für den Rechtsstaat stellt schließlich die „Patria Affäre“ dar, in der ein früherer Regierungschef wegen Korruption verurteilt wurde. In einem ersten Verfahren, drei Wochen vor der Wahl, zu welcher der Antragsteller und Oppositionschef kandidieren wollte, hat das Verfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde abgewiesen, weil offensichtlich keine Verletzung seiner Grundrechte vorliege, so dass er seine Gefängnisstrafe verbüßen musste und nicht zur Wahl antreten konnte. Wenige Monate später hat das Gericht seine erneute Beschwerde für begründet erklärt, eine schwere Verletzung seiner Grundrechte anerkannt und seine Entlassung aus dem Gefängnis veranlasst.[137]