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4. Zwischenbilanz bis 1918: Fragmente
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Die bisher behandelte Frage galt eindeutig nicht der politischen Relevanz der Verfassung im europäischen 19. Jahrhundert, eine Frage, die sich selbst beantwortet. Vielmehr ging es um ihre rechtliche und vor allem ihre gerichtliche Relevanz, d.h. um die gerichtlich garantierte Verfassung. So verstanden, ist hier wieder auf den Begriff „Fragmentierung“ zurückzugreifen. Diesmal aber nicht im Sinne einer „frakturierten“ Landschaft, d.h. einer Vielzahl von Einzelteilen, die sich unabhängig voneinander entwickeln: Der Begriff „Fragmente“ soll hier der Beschreibung einiger weniger Institute der Anfänge der Verfassungsgerichtsbarkeit dienen.
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Trotz mancher Forderungen der liberalen Doktrin erweist sich das richterliche Prüfungsrecht weder explizit noch implizit als vorhanden, und daran ändert auch eine sporadisch das Prüfungsrecht bejahende Judikatur nichts. Eine Ausnahme gilt nur für die Kontrolle der „untergeordneten“ Gesetzgeber (Kronländer, Kantone), unter Ausschluss der Kontrolle des Bundes- oder vergleichbaren Gesetzgebers. Die Lösung der Verfassungsstreitigkeiten ihrerseits, sowohl in Form von Organstreitigkeiten wie in der von Bundesstreitigkeiten, werden meistens politischen Organen anvertraut. Nur der Schutz der Grundrechte gegen Verwaltungsmaßnahmen erfährt in Österreich und in der Schweiz solide Fortschritte. Das reicht jedoch nicht aus, um die Gesamtschau zu korrigieren: Auch wenn die Normativität der Verfassung prinzipiell anerkannt ist, erscheint die gerichtliche Gewährleistung derselben in Form von losen Fragmenten.
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Die erste 1885 erschienene Auflage des bekanntesten Werkes von A. V. Dicey enthält eine „Anmerkung“, in der er eine entmutigende Bewertung des europäischen Konstitutionalismus vor dem Großen Krieg aus der hier behandelten normativen Perspektive vornimmt. Hierin stellt er drei mögliche Auffassungen des Begriffs des „verfassungswidrigen Gesetzes“ in der jeweiligen Rechtsordnung dar. So sei in England ein Gesetz verfassungswidrig, wenn es dem „Geist der englischen Verfassung“ widerspricht, was aber nicht bedeutet, dass es rechtswidrig oder nichtig ist. Ähnlich sei es, zweitens, in Frankreich, wo das Epithet „verfassungswidrig“ „wahrscheinlich“ nur den Sinn eines Tadels aufweist, also ohne konkrete Folge, „da es keineswegs sicher ist, dass ein französischer Richter die Anwendung eines Gesetzes ablehnt, weil es verfassungswidrig ist“. Nur im dritten Fall, in Bezug auf ein Gesetz des Kongresses der Vereinigten Staaten, sei ein Gesetz, das ultra vires ergangen ist, nichtig.[107] Diese Anmerkung drückt die allgemeine Situation des europäischen Konstitutionalismus am Ende dieser Periode aus.
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Gleichzeitig, ebenfalls im Jahr 1885, jedoch auf der anderen Seite des Kanals, bringt Georg Jellinek[108] die Idee eines Verfassungsgerichts „für Österreich“ auf den Weg, das sich in Wirklichkeit als Verfassungsgericht für Europa erweisen wird. Das von ihm vorgeschlagene Modell verkörpert nämlich im Wesentlichen das System der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit, d.h. die europäische Antwort auf die ungelöste Frage nach der Normativität und Justiziabilität der Verfassung.[109]
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Möglich ist dies, weil bereits 1885 die Grundelemente der Verfassungsgerichtsbarkeit klar erkannt werden. Interessant ist jedoch, dass in den drei darauffolgenden Jahrzehnten, trotz bedeutender Veränderungen in Europa,[110] nur sehr geringe Änderungen im Text der nationalen Verfassungen vorgenommen werden. Formell betrachtet, ist es eine Zeit der konstitutionellen Stabilität im europäischen Raum, in dem Sinne, dass es Jahrzehnte sind, in denen sich die jeweiligen Verfassungstexte fest etablieren. So insbesondere die österreichischen Verfassungsgesetze von 1867, die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871, die Schweizerische Bundesverfassung von 1874, oder endlich die französischen Verfassungsgesetze von 1875, ohne einige relevante monarchische Verfassungen derselben Periode zu vergessen. Und doch verändert sich Europa in diesen drei Jahrzehnten in jeder Hinsicht, politisch, sozial, wirtschaftlich, kulturell und wissenschaftlich: Der Erste Weltkrieg bringt das, was verfassungsrechtlich ein Kartenhaus war, brutal zum Einsturz. 1918 wird somit die Gelegenheit bieten, den Beitrag von Georg Jellinek wieder aufzugreifen.[111]