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c) Der Kelsenian moment
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„Nimmt der Gesetzgeber die Regelung der Kontrolle der Gesetzgebung in die Hand, so werden für ihn bezüglich der Gestaltung dieser Kontrolle ausschließlich staatspolitische Zweckmäßigkeitsgründe leitend sein müssen, er ist frei über sich selbst und darf sich nicht an eine der oben angegebenen Konstruktionen gebunden fühlen“.[143] Versteht man den Verweis auf den Gesetzgeber als Verweis auf den Verfassungsgesetzgeber, so drückt dieses Zitat die Eigenart der europäischen Option für eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit in exemplarischer Weise aus. Es ist die Option für eine neue Funktion, die der Verfassunggeber frei gestaltet: die des negativen Gesetzgebers. Das ist in der Tat die eigentliche Neuerung, die zwei junge mitteleuropäische Republiken mitbringen: eine neue Verfassungsfunktion für ein neues Verfassungsorgan. Die Normenkontrolle wird also durch einen disziplinierten Modus sowohl im funktionalen wie im organischen Sinne organisiert, und das nicht zuletzt, weil in diesem System der Schutz der Verfassung mit dem Schutz des Parlamentsgesetzes einhergeht.[144] Das alles setzt die Definition des Kontrollorgans und die Bestimmung der in Frage kommenden normativen Größen voraus, d.h., des Prüfungsmaßstabs und des normativen Prüfungsadressaten, die Entscheidung über die Antragsberechtigten und über die Verfahrensvarianten, und last but not least die jeweilige Wirkung der Urteile. Kurz gefasst, es geht darum, ein verfassungsrechtliches System zur Normenkontrolle zu schaffen.[145] Und es wird die Verfassung selbst sein, die, häufig mittels ihrer Ergänzung durch ein ad hoc Gesetz, das System in Gang setzt.[146]
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So werden eine Reihe von Begrifflichkeiten geschaffen, wobei bisweilen alte Begriffe neu besetzt werden: konzentrierte versus diffuse Normenkontrolle, abstrakte versus konkrete Normenkontrolle, präventive (a priori) versus repressive (a posteriori) Normenkontrolle, inter partes versus erga omnes Wirkung des Urteils, pro praeterito versus pro futuro Wirkung desselben. In einer Kombination von substantiellen und prozeduralen Elementen entsteht aus diesen Kategorien ein prozedurales Recht der Normenkontrolle, das später als willkommenes Raster der Rechtsvergleichung dienen wird.
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All dies wäre nicht möglich gewesen, schon gar nicht mit der gleichen Sicherheit in der Ausgestaltung, ohne die Arbeit der Wiener Rechtstheoretischen Schule, insbesondere ohne einen ihrer grundlegenden Ansätze, der Konzeption des Rechtssystems als Stufenbau, in dem Verfassung und Gesetz ihren eigenen Platz finden.[147] Es ist kein Zufall, dass das System in zwei verschiedenen Staaten, deren Rechtskultur jedoch eng verwandt ist, gleichzeitig entsteht. Der „Brutplatz“ ist für Österreich und die Tschechoslowakei derselbe. Und die Professoren sind in beiden Fällen, so wie genii loci, gleichermaßen präsent.
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Knapp und kurz: dies ist der Kelsenian moment. Jedoch nicht so sehr, weil Hans Kelsen der unbestrittene Vater der Erfindung wäre, sondern weil er wie sonst keiner ihre theoretische Seele verkörpert. Seine anfängliche Antipathie für eine Gleichsetzung von Bundes- und Landesrecht bezüglich deren Kontrolle ist dabei zweitrangig: Er ist es, der der Erfindung theoretische Form gibt und der mitunter die praktische Verantwortung dafür trägt.[148] Mit Hans Kelsen hört die Idee der Normenkontrolle auf, eine dem Gesetz auferlegte Existenzbedingung darzustellen, um sich in eine dem Gesetz innewohnende Eigenschaft zu verwandeln.