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b) Der Fall Weimar, zwischen Kontinuität und Abbruch (1919–1933)
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Zwischen alt und neu angesiedelt, verdient Weimar, diesmal als Summe der Reichsverfassung und der sich daraus entwickelnden Verfassungswirklichkeit verstanden, gesonderte Behandlung. Die am 11. August 1919 verabschiedete Reichsverfassung ist vor allem alt, indem sie zur Frage des richterlichen Prüfungsrechts schweigt. Aber sie ist zugleich modern in dem Sinne, dass sie durch verschiedene Vorkehrungen, sowohl de lege lata als de lege ferenda, ständig die konzentrierte und abstrakte Normenkontrolle verfolgt. Zuletzt ist sie eigenartig, indem sie zum Schutz der Verfassung auf einen an sich unerwarteten Protagonisten, den Reichspräsidenten, zurückgreift. Alles in allem bietet die erste deutsche republikanische Verfassung ein sehr komplexes Panorama, in dem alle schon bekannten Faktoren der Verfassungsgerichtsbarkeit zusammenkommen: Parlamentarische Verfassungsdebatten, Institute der Verfassungskonflikte, Feststellung des richterlichen Prüfungsrechts aus eigener Hand sowie die ganze Zeit hindurch anhaltende Diskussionen auf wissenschaftlicher Ebene.[130]
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Das allgemeine Augenmerk in all diesen Jahren betrifft den Aspekt, zu dem die Verfassung gerade schweigt, das mehrmals erwähnte richterliche Prüfungsrecht.[131] Diesmal handelt es sich um ein völlig bewusstes Schweigen des Verfassunggebers, und zwar als Folge der Schwierigkeiten, sich in dieser Frage zu einigen.[132] Die gesamte Lehre wird im Laufe der Zeit Stellung zu der Frage nehmen.[133] Das Reichsgericht selbst wird es sein, das[134] in der höchst sensiblen Rechtssache des Aufwertungsgesetzes mit Urteil vom 5. November 1925, allerdings bei Aufrechterhaltung des Reichsgesetzes, das richterliche Prüfungsrecht mit klaren Worten proklamierte.[135]
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Das Parlament reagiert auf diesen richterlichen Handstreich mit dem Versuch, eine konzentrierte und abstrakte Kontrolle der Reichsgesetze einzuführen. Der sogenannte Külz-Entwurf sah vor, den Staatsgerichtshof sowohl mit einer präventiven als auch einer repressiven Kontrolle der Reichsgesetze zu beauftragen. Der Entwurf war über drei Jahre lang Gegenstand umfangreicher Diskussionen innerhalb und außerhalb des Reichstags, bis man ihn letzten Endes fallen ließ. Er bildet dennoch den bedeutendsten Versuch Weimars, ein Modell der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen.[136]
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Unabhängig davon enthält die Verfassung, wie bereits erwähnt, einige ausdrückliche Bestimmungen zu dieser Problematik. Art. 13 der Reichsverfassung bietet in seinen beiden Absätzen eine Kombination aus diffuser Kontrolle der Landesgesetze[137] und einer konzentrierten und abstrakten Kontrolle derselben vor einem in der Reichsverfassung nicht weiter präzisierten obersten Gericht, das kraft späteren Gesetzes hauptsächlich das Reichsgericht sein wird.[138] Ungeachtet der Schwierigkeiten, die diffuse und konzentrierte Gesetzeskontrolle zu kombinieren, wird die Modernität der zweiten Variante zu Recht hervorgehoben.[139]
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Parallel dazu, in Art. 19 der Reichsverfassung, wird einem Staatsgerichtshof die Zuständigkeit zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen dem Reich und einem Land und die Beilegung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Länder, in denen kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, zuerkannt. Aus der Perspektive seiner Zusammensetzung, die Mehrheit seiner Mitglieder gehört dem Reichsgericht an, erscheint die Selbstständigkeit dieses neuen obersten Gerichts jedoch fragwürdig. Von unbestrittener Relevanz war die nicht geregelte Frage, ob die Prüfung von Reichsgesetzen im Wege dieses Verfahrens praktikabel war. Wiederum ist es ein Urteil aus dem Jahr 1927, das die Frage in positivem Sinne löst.[140]
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Aber erst der Konflikt zwischen Preußen und dem Reich im Jahre 1932 legt die objektiven Grenzen einer richterlichen Lösung akuter politischer Konflikte offen. Der Konflikt betraf eine vom Präsidenten der Republik auf der Grundlage von Art. 48 der Verfassung erlassene Notverordnung, mit der der Reichskanzler zum Reichskommissar in Preußen mit der allgemeinen Befugnis ernannt wurde, die Regierung Preußens bei der Ausübung ihrer Aufgaben zu ersetzen.[141] Der Staatsgerichtshof antwortete mit einer verfassungskonformen Auslegung der Notstandsgesetzgebung, die keine der Parteien letztendlich befriedigte.[142]