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bb) Brno: Das tschechoslowakische Verfassungsgericht (1920–1938)

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Die Verfassung der ersten Tschechoslowakischen Republik vom 29. Februar 1920, aus einem kurzen „Einführungsgesetz“ und einer „Verfassungscharta“ zusammengesetzt,[158] folgt dem österreichischen Modell, indem sie ein „Verfassungsgericht“ vorsieht, dessen Struktur und Befugnisse durch ein gleichzeitig in Kraft getretenes Gesetz geregelt wurden. Es ist, wenn auch nur um einige Monate, die erste europäische Verfassung, die eine Normenkontrolle einführt, die alle Gesetze unbeschränkt betrifft.[159] Als neuer Staat wurde die Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 durch den Zusammenschluss von früher zu beiden Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörenden Gebieten geboren, deren nationale Identität auf einem seit dem vorigen Jahrhundert aktiven tschechischen Nationalismus beruhte. Die Verfassung schafft eine unitarische parlamentarische Republik, mit Ausnahme der für das Gebiet Ruthenien vorgesehenen politischen Autonomie.[160] Die Nationalversammlung ist bikameral gestaltet, mit einer Abgeordnetenkammer und einem Senat sowie einer Ständigen Deputation mit gesetzgebenden Zuständigkeiten während der Zeit außerhalb der Sitzungsperioden.

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Die Verfassung überträgt dem Verfassungsgericht eine konzentrierte, strikt regulierte Normenkontrolle. Seine einzige Aufgabe ist die Prüfung der Gesetze der Nationalversammlung und der Gesetze Rutheniens, plus, von Amts wegen, der Notstandsgesetzgebung der Ständigen Deputation. Die Funktionsfähigkeit der ganzen Regelung wurde durch die begrenzte Zahl der Antragsberechtigten von Anfang an beschränkt: Die drei gesetzgebenden Versammlungen sowie das Plenum jedes der drei höchsten Gerichte. Der Gerichtshof, mit Sitz in Brno und seit 1921 tätig, bestand aus sieben, für einen Zeitraum von zehn Jahren ernannten Mitgliedern.

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Was die Entwicklung dieses Gerichtshofs betrifft, so führten ein Ereignis und ein „Nicht-Ereignis“ zu seiner völligen Unwirksamkeit. Das Nicht-Ereignis war der Umstand, dass die von der Verfassung vorgesehene Autonomie Rutheniens nie zustande kam. Damit war auch prinzipiell ausgeschlossen, dass das Verfassungsgericht seine Hauptaufgabe erfüllen konnte, nämlich die Beilegung von Konflikten gesetzgeberischen Charakters zwischen der Nationalversammlung und Rutheniens gesetzgebender Versammlung. Außer in einem einzigen Fall sahen die Obersten Gerichte der Republik ihrerseits keine Notwendigkeit, von ihrer Befugnis zur Einleitung einer abstrakten Kontrolle Gebrauch zu machen.

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Das Ereignis, das das Schicksal des Gerichtshofs endgültig besiegelte, betraf seine einzige andere Zuständigkeit, die Kontrolle der vorläufigen Notstandsgesetze der Ständigen Deputation von Amts wegen. Es ist in Ausübung dieser Zuständigkeit, dass der Gerichtshof die zwei einzigen Urteile in seiner gesamten Existenz erließ.[161] Beide am selben Tag verkündeten Urteile enthielten eine verfassungskonforme Auslegung der Notstandsgesetzgebung, die letztendlich niemanden zufriedenstellte. Infolge dieses Ereignisses und auf Grund der praktisch ständig amtierenden Nationalversammlung wurde die Wiederbestellung der Ständigen Deputation verhindert. Die definitive Lahmlegung des Gerichts erfolgte, als die Richterwahl, die 1931 erneut stattfinden sollte, sich bis kurz vor dem Ende der Republik verzögerte.

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Sowohl auf Grund seiner Konzeption wie seiner Entwicklung erschöpft sich der Beitrag des Verfassungsgerichts der ersten Tschechoslowakischen Republik in seiner Funktion, mehr auf dem Papier als in der Praxis eine der vertretbaren Ausgestaltungen des neuen Systems der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit darzubieten. Aus der Perspektive der Rechtsvergleichung diente es dazu, als Kontrapunkt zur österreichischen Erfahrung zu fungieren. Es ist zuletzt hervorzuheben, dass die Entstehung und Entwicklung dieses mitteleuropäischen Verfassungsexperiments von einer beachtenswerten Publizistik begleitet wurde.[162]

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