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bb) Hauptstadt Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht[175]
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So wie Wien während der Zwischenkriegszeit die Hauptstadt der Verfassungsgerichtsbarkeit more Europaeo war, so wird es jetzt Karlsruhe sein, als Sitz des neuen Bundesverfassungsgerichts des nicht minder neuen Bonner Grundgesetzes, der provisorischen Verfassung für die westlichen Gebiete des drastisch geteilten deutschen Territoriums.[176] Es ist kein Titel, den Karlsruhe sich vom ersten Moment an aneignen durfte, denn Karlsruhes Anfänge waren nicht weniger bescheiden als die der Verfassung, die zu garantieren das neue Gericht berufen war.[177] Im Laufe der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erlebt man jedoch den Aufstieg eines wahren Mythos, nämlich den eines Verfassungsgerichts, das eine Autorität und Anerkennung im In- und Ausland erlangen sollte, wie sie im europäischen Raum für ein Gericht jedweder Art bis dahin unbekannt war.[178]
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Im Grundgesetz mit den Hauptzügen des österreichischen Systems ausgestattet, blieb eine Zahl der – sowohl organischen als funktionalen – Merkmale dieses neuen Verfassungsorgans offen.[179] Erst im Laufe der Zeit erfuhr das Bundesverfassungsgericht, wie wir es heute kennen, vollständige Regelung im Grundgesetz selbst: So z.B. die Verfassungsbeschwerde. Auch für seine Konsolidierung wurde ihm nicht viel Zeit gegeben. Vom ersten Moment an war es mit Fragen von höchster politischer Sensibilität konfrontiert.[180] Wenn dies eine kurz gefasste Erklärung seines Erfolgs sein kann, so entstand das Bundesverfassungsgericht zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Darüber hinaus verstanden es die ersten Verfassungsrichter und die erste Verfassungsrichterin, auf ihre historische Herausforderung entsprechend zu reagieren.[181]
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Die Hauptrolle sollte bald der Verfassungsbeschwerde zukommen, als dem effektivsten Verfahren zum Schutz des neuralgischen Zentrums des Grundgesetzes, den Grundrechten. Das strategische Instrument war die Urteilsverfassungsbeschwerde, d.h. das Rechtsmittel gegen alle letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen. Im Rahmen der Normenkontrolle sollte jedoch das Verhältnismäßigkeitsprinzip der ausschlaggebende Faktor werden. Kurz gesagt: Was Karlsruhe mit Ausstrahlung und Auswirkung auf ganz Europa zur Welt bringt, ist das Bild eines Gemeinwesens, in dem sowohl das öffentliche Handeln wie ein beachtlicher Teil des Handelns Privater an der Verfassung gemessen werden, letzteres deshalb, weil die Verfassung vermag, dazu etwas zu sagen, und das Bundesverfassungsgericht es ist, das darüber befindet, ob das der Fall ist.
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Außer bezüglich seiner Struktur als Zwillingsgericht, d.h. seiner Zweiteilung in zwei Spruchkörper, die Senate, mit jeweils eigenen Kompetenzen, wird das Bundesverfassungsgericht sonst in seinen Hauptzügen im europäischen Raum imitiert. Andere europäische Verfassungsgerichte versuchen, viele seiner grundlegenden formulae (Doppelcharakter und Strahlungswirkung der Grundrechte, Verhältnismäßigkeitsprinzip, usw.) zu übernehmen. Es wurde aber darüber hinaus auch verfolgt, das Beispiel Karlsruhes in seiner Innovationsfähigkeit, in der Kühnheit der Ausübung seiner Kompetenzen und bisweilen sogar in seiner Vorrangstellung im gesamten Verfassungssystem nachzuahmen, und das alles ohne klares Bewusstsein der besonderen Umstände, die dies in Deutschland ermöglicht hatten.[182]