Читать книгу Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica Claes - Страница 70
1. Rechtskultur und Verfassungsgerichtsbarkeit
Оглавление13
Rechtskultur ist nicht nur ein schillernder, sondern auch ein höchst umstrittener Begriff. Nach Friedman bezeichnet er Ideen, Werte, Verhalten und Meinungen von Menschen einer Gesellschaft über das Recht und das Rechtssystem.[18] Nelken umschreibt sie folgendermaßen:
„The identifying elements of legal culture range from facts about institutions such as the number and role of lawyers or the ways judges are appointed and controlled, to various forms of behaviour such as litigation or prison rates, and, at the other extreme, more nebulous aspects of ideas, values, aspirations and mentalities. Like culture itself, legal culture is about who we are not just what we do“. [19]
14
In seiner kritischen Auseinandersetzung erwähnt Glenn[20] nicht weniger als 157 verschiedene Definitionen von Rechtskultur, allein zwischen 1920 und 1950. Dem Begriff wird vornehmlich vorgeworfen, statische, auf den Nationalstaat zentrierte Analysen zu fördern[21] und dabei Gefahr zu laufen, nationale Homogenität oder gar Hegemonie zu proklamieren und unmerklich die Rechtskultur der Mentalität oder der Rasse gleichzusetzen.[22] Gleichzeitig wird kritisch angemerkt, die Rechtskultur stelle einen viel zu weiten, abstrakten und unbestimmten Begriff dar,[23] um operabel sein zu können oder, um mit Nelken zu formulieren: „ist Rechtskultur die Frage oder die Antwort?“[24]
15
Der erste Einwand gegen den Begriff der Rechtskultur kann weitgehend mit dem Hinweis auf die Vielfalt der Rechtskulturen – individuelle, kollektive, regionale, supranationale Rechtskulturen – entkräftet werden. Wegen dieser Vielfalt und der Tatsache, dass mehrere Kulturen für eine bestimmte Gruppe relevant sein können, dass Kultur sich eben auch aus konkreter Erfahrung speist, ist sie nicht als statisch, sondern als grundsätzlich dynamisch aufzufassen und nicht unbedingt auf die staatliche Ebene beschränkt.[25] Indem sie Rechtskultur nicht als statisches und geschlossenes Konzept, sondern als beweglich und offen begreift, begegnet diese Sichtweise auch dem Risiko einer ontologischen, zur Rasse tendierenden Betrachtungsweise.[26] Der zweite Vorbehalt scheint schwerwiegender. In der Tat bezieht sich die Rechtskultur sowohl auf die „rechtsinterne“ Sichtweise, das heißt die Art wie Juristen ihren Beruf auffassen und praktizieren, als auch auf die „rechtsexterne“, welche so verschiedenartige Phänomene wie Auffassungen, Ideologien, aber auch Verhalten der Gesellschaft in Bezug auf Recht und Rechtssystem beinhalten. Es ist jedoch möglich, diesen so weiten und abstrakten Begriff in unterschiedliche Bestandteile zu zerlegen und jeweils getrennt zu analysieren.[27] Dies wird im Folgenden so oft wie möglich unternommen. So wird die interne Sichtweise insbesondere in die Begriffe Rechtsverständnis, juristisches Denken und Auslegungsmethoden oder Argumentationsmuster aufgegliedert. Bei der externen Sichtweise kommen vor allem das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung und deren Vertrauen in die Justiz zur Sprache. Für beide Sichtweisen ist auch die Rechtstradition relevant.
16
Trotz aller Bedenken scheint der globale Begriff der Rechtskultur nicht immer fehl am Platz,[28] vor allem dann nicht, wenn die zahlreichen Interaktionen und Wechselbeziehungen zwischen den genannten Elementen bedacht werden sollen.[29] Wenn z.B. nach allgemeiner Auffassung das Recht einen Spiegel der Tradition darstellt – so wie in Großbritannien – und nicht ein Instrument politischer tabula rasa – wie während der französischen Revolution –, dann erscheint es logisch, dass sich dieses Verständnis sowohl auf die richterliche Entscheidungsfindung und die Auslegungsmethoden als auch auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung niederschlägt. Sicherlich handelt es sich hier nicht um Kausalität im engen Sinn, sondern eher um gegenseitige Bedingtheit, denn der Einfluss könnte auch in die Gegenrichtung wirken; gleichwohl besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ein Grundverständnis konkrete Wirkungen entfaltet.
17
Gerade in dieser Hinsicht treffen Rechtskultur und Verfassungsgerichtsbarkeit aufeinander. Die Arbeitsmethoden und der allgemeine Stil eines Verfassungsgerichts[30] sind nicht nur Ausdruck einer bestimmten Technik, sondern machen eine Aussage zum Grundverständnis des Rechts und des Richteramts in der jeweiligen Gesellschaft. Noch konkreter ausgedrückt: wenn ein Verfassungsgericht Aktivismus betreibt – ganz gleich, ob aus „altruistischen“ Gründen der Demokratieförderung oder mit dem egoistischen Ziel, mehr Macht zu erlangen, – dann kann man doch davon ausgehen, dass dieses Gericht nicht nur eine textliche mikroskopische, sondern vor allem eine substantielle makroskopische – oder sogar teleologische – Vision des Rechts hat. Genau dies ist der Punkt, an dem die vom Sozialismus übernommene Rechtskultur einer Integration in den europäischen Rechtsraum entgegen zu stehen scheint.