Читать книгу Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica Claes - Страница 71

2. Die sozialistische Rechtskultur und ihre (Un-)Vereinbarkeit mit dem europäischen Rechtsraum

Оглавление

18

Damit die ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte eine aktive Rolle in der Transformation wahrnehmen und damit den Weg in den europäischen Rechtsraum ebnen können, scheint in der Tat ein Wandel der früher dominanten Rechtskultur erforderlich.

19

Obwohl Jugoslawien im sozialistischen Lager einen politischen Sonderweg gegangen war, hat sich dies nicht wesentlich auf das Rechtsverständnis, das juristische Denken und das Rechtsbewusstsein niedergeschlagen. Die Frage ist allerdings, ob der Rechtsnihilismus,[31] ein insbesondere von Margareta Mommsen und Angelika Nußberger am russischen Beispiel anschaulich gemachter Begriff, in Jugoslawien ebenfalls vorherrschte. Der Begriff „Rechtsnihilismus“ bezeichnet ein fast genauso weites und abstraktes Phänomen wie derjenige der Rechtskultur, da er sowohl das grundsätzliche Rechtsverständnis als auch das methodische Instrumentarium der Juristen, vornehmlich der Richter, und schließlich das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung umfasst. Im Falle Russlands bedeutet er eine gewisse Negierung oder gar eine Art Verachtung des als prinzipiell ungerecht empfundenen Rechts. Diese Überzeugung war bereits in der nationalen Tradition verankert und kam dann unter der kommunistischen Ideologie zugespitzt zum Ausdruck in der Idee des „Absterben des Staates“, die das „Absterben des Rechts“ nach sich ziehen sollte. Doch hat sich diese Idee wegen des drohenden Chaos nicht durchsetzen können. Stattdessen wurde die sozialistische, der Partei dienende Legalität gefeiert, die gleichwohl durch die auch dem Rechtsnihilismus innewohnende Herabsetzung und Instrumentalisierung des Rechts geprägt war. Das System Putin mündet so, wie von Mommsen und Nußberger beschrieben, in eine gelenkte Justiz und eine gelenkte Demokratie. Nun hat die Idee des „Absterbens des Rechts“ in Jugoslawien nie Ansehen gewonnen, da der Staat – und damit das Recht – in der Selbstverwaltung aufgehen sollten. Insofern war es folgerichtig, die Selbstverwaltung mit einem Verfassungsgericht zu flankieren. Dennoch finden sich auch in Jugoslawien Ähnlichkeiten mit dem System des Rechtsnihilismus.

20

Das Phänomen des Rechtsnihilismus außerhalb Russlands wird im Hinblick auf die mitteleuropäischen Staaten, das heißt Polen, Ungarn, die tschechische Republik und die Slowakei, vor allem von Zdenĕk Kühn[32] beschrieben. Er unterstreicht die durch den Kommunismus verursachte Rückständigkeit der Rechtswissenschaft, die sich hauptsächlich auf die im 19. Jahrhundert gepriesene Exegese stützte und so die Richter- und Juristenausbildung unter dem Sozialismus prägte. Dies führe zu einem streng formalen und rechtspositivistischen[33] Verständnis, welches Kühn als „mechanisches Denken“[34] bezeichnet. Von den Gesetzen wird erwartet, dass sie alles erschöpfend regeln und von der Richterschaft, dass sie keinerlei Ermessen bei deren Auslegung ausübt und sich ausschließlich auf das Gesetz beruft. Da sich dies in der Praxis oft als unmöglich erweist, werden viele Gesetze nicht angewendet,[35] in informellen Verfahren[36] durchgesetzt oder aber umgangen. Auch hier sieht man, wie die grundsätzliche Anschauung – die sozialistische „Rechtsphilosophie“ – sich auf die täglichen Arbeitsmethoden und die juristische Technik auswirkt.

21

Im Ergebnis bedeutet das „mechanische Denken“ eine Arbeitserleichterung und fördert eine gewisse Blindheit für die wachsende Komplexität des Rechts, denn die Rechtsfiguren und Argumentationsmuster stützen sich hauptsächlich auf die Auslegung nach dem Wortlaut, die zu einer einzig richtigen Lösung führen soll. Oft wird die Rechtsordnung auf die Alternative von geltendem, bindendem oder nicht bindendem Recht reduziert.[37] Es wird damit deutlich, dass es dieser Rechtskultur schwerfällt, Völkerrecht oder ausländisches Recht anzuerkennen oder zu berücksichtigen und dass ihr auch die Kategorie des soft-law fremd ist.

22

Diese Deutung ist in den letzten Jahren bisweilen als ideologisch sowie nicht eindeutig genug begründet kritisiert und daher bezweifelt worden.[38] Insbesondere wird vorgebracht, dass Formalismus kein spezifisches Merkmal einer sozialistischen Rechtskultur darstellen könne, da die gesamte Rechtswissenschaft und -praxis formalistisch geprägt sei. Ferner sei diese Qualifizierung viel zu abstrakt und ungenau, um als Charakteristikum einer Rechtskultur dienen zu können. Daran ist sicher richtig, dass juristischem Denken unweigerlich formalistische Elemente innewohnen und auch, dass diese je nach der Tradition mehr oder weniger dominieren. Gleichwohl ist den postkommunistischen Ländern – und unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich das ehemalige Jugoslawien nicht von Mittel- und Ost-Europa – ein besonderer Stil eigen, den man dann statt formalistisch als „textualistisch“ bezeichnen könnte. Es ist das Überwiegen von wörtlichen Auslegungsmethoden und rein textlichen Bezugnahmen ohne Rücksicht auf den sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Kontext oder auf die in der Verfassung angelegten Ziele und Werte.

23

Unter diesen Umständen ist eine Annäherung an den europäischen Rechtsraum nur bedingt möglich. Entweder werden die Vorgaben des EGMR zur Auslegung, Umsetzung und Anwendung der Menschenrechte sowie der Vorrang und die Anwendung des EU-Rechts als Fassade, aber ohne ihre Substanz, befolgt oder sie werden nur insoweit beachtet, als es das innerstaatliche Recht und vor allem die Verfassung erlaubt, da auch an eine großzügige Interpretation der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen nicht zu denken ist.

24

Aus all diesen Gründen stellt das Abstandnehmen der ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte von der herkömmlichen Rechtstradition ein besonders wichtiges Indiz für deren Bereitschaft dar, an dem durch den europäischen Rechtsraum implizierten Verbund teilzunehmen. Dieser Abschied mag umso schwieriger erscheinen, als der europäische Rechtsraum seinerseits keine homogene Rechtskultur[39] besitzt, sondern allenfalls Gemeinsamkeiten und Harmonisierungen.[40] Gewisse Grundprinzipien sind jedoch unabdingbar: im Rahmen der EU sind dies die in Art. 2 EUV genannten Grundsätze, im Rahmen der EMRK deren (ganz ähnliche) Werte[41] und die dort garantierten Rechte. Diese Standards sind sowohl für die rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit als auch für die Rolle der Verfassungsgerichte im politischen Prozess und im Rechtsleben relevant.

Handbuch Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх