Читать книгу Brüste umständehalber abzugeben - Nicole Staudinger - Страница 12
Haarige Angelegenheiten
ОглавлениеMir werden die Haare ausfallen. Daran führt kein Weg vorbei, sagen die Ärzte. Wie das wohl sein wird? Sind sie alle auf einmal weg? Oder verschwinden sie nach und nach?
Natürlich beschäftigt mich das Thema sehr. Man sagt, dass sie kurz nach der ersten Chemo anfangen auszufallen. Noch habe ich keinen blassen Schimmer, wann dieser Tag sein wird, aber ich will definitiv vorher handeln. Keine Chemo dieser Welt wird mir vorgeben, wann ich wie und wo meine Haare verliere. Das käme einer Fremdbestimmung gleich, die ich mir nicht gefallen lassen möchte – und schon mal gar nicht von Karl Arsch.
Um ehrlich zu sein, wollte ich schon immer wissen, ob ein Kurzhaarschnitt mir steht, aber wie auch vielen anderen Frauen fehlte mir bisher der Mut. Doch wenn nicht jetzt, wann dann? Exakt drei Tage nach der Diagnose rufe ich bei meinem Friseur an und falle hochsensibel mit der Tür ins Haus: »Ich muss bitte sofort einen Termin haben, ich habe Krebs und brauche einen Kurzhaarschnitt.«
Vier Stunden später sitzen wir alle beim Friseur. Mein Mann und meine beiden Kinder ebenfalls, denn ich finde, dass auch sie eine neue Frisur benötigen. Vielleicht ist es auch nur meine Angst, allein zu gehen, die ihre Haare auf einmal zu lang erscheinen lässt.
Meine schulterlangen, blonden Haare sind das Ergebnis zweijähriger, kostenintensiver Pflege. Genau genommen sind sie exakt so lang, wie ich sie haben möchte. Ich habe dickes, starkes, gesundes Haar.
»Soll ich es langsam, Stück für Stück abschneiden oder alles auf einmal?«
»Alles auf einmal«, sage ich dem Friseur selbstsicher und entschieden.
In diesem Moment klingelt mein Telefon und ich erkenne die Nummer von Dr. Bertram aus Düsseldorf. Stimmt, heute ist Freitag, der Tag der Biopsie-Ergebnisse.
»Frau Staudinger, es ist schon so, wie ich es vermutet habe …«
Er sagt noch viel mehr, ich verstehe ihn schlecht, weil es beim Friseur so laut ist und weil er nicht wirklich mit Fachausdrücken spart.
»Herr Doktor, ist da irgendetwas Neues, von dem Sie sagen, das hätte mir erspart bleiben können oder schlimmer, nehmen Sie Ihre Aussage, dass ich nicht sterben muss, wieder zurück?«
»Nein!«
Er erzählt wieder viel. Es fallen Worte wie Triple negativ und OP. Ich verstehe das nicht, er hatte doch gesagt, erst Chemo, dann OP. Er spricht von Wächterknotendiagnostik und wir vereinbaren einen Gesprächstermin für den kommenden Montag. Heute ist Freitag. Natürlich! Wieder heißt es warten.
Obwohl das Telefonat nicht wirklich überraschend war, die Neuigkeiten nicht niederschmetternd, bin ich mit den Nerven am Ende. Vielleicht hatte ich unterbewusst doch diesen absurd kleinen Hoffnungsschimmer, dass er anruft und sagt: »April, April, es war nur eine Zyste – da oben sind die Kameras, winken Sie doch mal dem Publikum.«
Stattdessen höre und spüre ich die Schere in meinem Nacken.
»Willst du sie behalten?«, fragt mich der Friseur, der mich mit seinen Worten ins Hier und Jetzt zurückholt. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Nein, möchte ich nicht. Meine Haare stehen für ein altes, längst vergessenes Kapitel in meinem Leben: Es hieß »Unbeschwertheit«. Die ist weg. Für immer. So wie die Haare. Die Diagnose ist erst drei Tage alt und mein altes Leben erscheint lange schon vergangen.
Er schneidet und formt und gibt sich unglaublich viel Mühe.
»Meine Mutter hatte letztes Jahr auch Brustkrebs. Ihr wurden beide Brüste abgenommen. Es war eine schwere Zeit, aber heute ist sie krebsfrei«, sagt er.
Diese Geschichten höre ich immer öfter und sie tun mir gut, wirklich.
»Du siehst wunderschön aus. Es gibt nicht viele, die das tragen können!«, sagt er schließlich.
Ich drehe mich zu meinen drei Jungs um.
»Mama, das sieht ganz ganz blöd und auch ein bisschen uncool aus. Am besten wir kaufen dir eine tolle Perücke!«, ist das fachmännische Urteil meines Sohnes Max. Auch mein Mann sieht nicht wirklich glücklich aus, schwafelt irgendwas von wegen »dran gewöhnen« und »sie kommen ja wieder«. Schön, wenn Männer immer so die passenden Worte finden.
»Mama, du weißt, dass ich heute Leichtathletik habe, ne?«, sagt Max unvermittelt.
»Du, Schatz, ich glaube, das lassen wir heute besser ausfallen«, interveniert mein Mann sofort.
»Das glaube ich aber nicht«, werfe ich freundlich, aber bestimmt dazwischen. Meiner Meinung nach haben Kinder ein Recht auf Normalität. Auch mit dem neuen Familienmitglied Karl Arsch. So weit käme es noch, dass wir wegen Monsieur Tumor wichtige Sporttermine der Kinder sausen lassen. Zugegeben, so wichtig ist es jetzt vielleicht nicht, aber für Max ist es ein Bestandteil seiner wöchentlichen Routine. Und da in naher Zukunft noch genügend Veränderungen auf uns zukommen werden, soll ihm sein So-wie-immer so lange wie möglich erhalten bleiben.
»Maus, ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht«, versucht mein Mann, mich noch umzustimmen. Er hat absolut recht. Es geht mir sogar ziemlich schlecht: die neue Frisur, der endgültige histologische Befund, Karl Arsch in meiner Brust, den ich mittlerweile ständig zu spüren glaube, und die bittere Gewissheit, dass die nächsten beiden Tage nichts passieren wird. Dabei macht der Krebs am Wochenende doch keine Pause! Wieder kommt diese Panik in mir hoch. Wie kann man mich denn jetzt einfach so allein lassen? Gibt es kein einziges Krankenhaus, wo ich jetzt hinkann? »Es geht schon, Hase«, lüge ich wenig überzeugend und mir steigen die Tränen in die Augen.
Auf dem Sportplatz treffe ich auf viele andere Mütter und mein Krebs hat sich mittlerweile rumgesprochen. Alle sind betroffen, ehrlich berührt, auch geschockt und keiner weiß so recht, was er sagen soll. Ich weiß es auch nicht, meine Fähigkeiten als schlagfertige Entertainerin sind gerade auf dem Nullpunkt. Ich will nur Hilfe.
Mit Dr. Bertram hatte ich schon besprochen, dass ich die Chemotherapie in einem Kölner Brustzentrum machen werde, einfach weil es viel näher ist und die Ärzte hier mindestens genauso gut sind. Das habe ich jetzt schon mehrfach gehört und die Tatsache an sich ist für mich auch in Ordnung. Wenn nur dieses Warten nicht wäre. So langsam entwickelt sich ein Bild aus dem kaputten Puzzle: Wir kennen die Tumorart, wissen, dass es sich um einen hochaggressiven Tumor handelt, wissen auch, dass es zumindest keine Metastasen im Thorax gibt. Offen sind die Fragen, was es mit der Wächterknotendiagnostik auf sich hat, ob die Lymphen wirklich frei sind und wie genau es danach weitergeht. All diese Fragen werden mich die nächsten zwei Tage quälen und ich werde über das ganze, lange Wochenende nicht handeln können. Das macht mich wahnsinnig ängstlich, traurig und wütend zugleich.
Ich hänge meinen Gedanken nach, meine Augen sind hinter einer großen Sonnenbrille versteckt, und ich sehe den Kindern beim Training zu. Von außen betrachtet ähnele ich wahrscheinlich dem Typus der total hippen Spielerfrau: trendige Kurzhaarfrisur, große Sonnenbrille, todernster Gesichtsausdruck. Ein bisschen wie Victoria Beckham vielleicht – zugegeben, mit dem zweifachen Körperumfang (oder dreifach? Ich weiß es nicht). Um mich herum haben sich viele Mütter versammelt, die ich kaum wahrnehme. Ich kenne sie alle und normalerweise führen wir anderthalb Stunden lang die nettesten Gespräche. Heute habe ich keine Lust zu reden. Die anderen aber schon, speziell eine Mutter: »Ach mein Gott! Wenn ich dich so sehe, bin ich wirklich froh, dass ich gerade bei der Vorsorge war! Ich gehe da ja immer regelmäßig hin! Weißt du, bei zwei Kindern macht man sich ja schon so seine Gedanken!«
Meine Freundin Nicole sitzt neben mir und drückt meine Hand, als wolle sie sagen: »Lass sie reden!«
Es fehlt mir die Kraft für einen passenden Konter. Ich kann mich nicht auf jede Bemerkung einlassen. Aber vielleicht sollte ich doch meine letzten Reserven mobilisieren und ihr in den Bauch boxen? Ich lasse es …