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Kriegsgebiet abstecken

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Wir verlassen das Krankenhaus in einer wesentlich besseren Verfassung, als wir es gut anderthalb Stunden zuvor betreten hatten.

»Er hat doch gesagt ›Ich muss nicht sterben‹, oder?«, frage ich meinen Mann bestimmt zum zehnten Mal.

»Ja, Maus, genau das hat er gesagt.« Er ist sichtlich erleichtert, und ich bin froh, dass ich mich entschieden hatte, ihn mitzunehmen. Auf die Ergebnisse der Biopsie müssen wir zwar jetzt noch zwei Tage warten, und die Hoffnung auf etwas Gutartigesist längst aufgegeben, doch zumindest kann man überleben. Aber, was mache ich jetzt? Ich habe Krebs, da kann ich doch nicht einfach so nach Hause gehen und nichts tun.

Also fahren wir auf direktem Weg zu unserem Hausarzt, einer der beiden Chefs meiner Mutter. Natürlich ist er schon ausführlich informiert.

Wir sprechen lange, und da er einige Jahre in der Onkologie gearbeitet hat, kann er mir viele meiner Fragen zur bevorstehenden Chemotherapie beantworten. Und vor allem spricht er etwas an, was ich bis dahin noch nicht kannte: die Staging-Untersuchungen. So nennt man das Absuchen nach Metastasen im Körper. Dr. Bertram hatte davon etwas erwähnt, doch ich habe nur halb hingehört, denn mir hallten ja noch »Lymphen sehen gut aus« und »Sie haben zu 99 Prozent keine Metastase« im Ohr.

Dennoch, im Brustkrebs-Sektor ist alles streng geregelt: Hast du einen Tumor, musst du zu drei Staging-Untersuchungen: Thorax röntgen (das kannte ich schon nach dem Hautkrebs, da wurde das auf meinen Wunsch hin gemacht), Leber schallen und Knochenszintigraphie.

»Okay, aber wenn die Lymphen frei sind, muss ich doch keine Angst haben, oder?«

»Es ist nichts zu erwarten, aber wenn ich es wüsste, müssten wir es nicht machen!«, erklärt mir mein Arzt.

Dr. Bertram hatte mir zwar auch angeboten, diese Untersuchungen im Krankenhaus durchführen zu lassen, meinte aber gleichzeitig, wenn wir es schneller hinbekämen, gern auf eigene Faust. Zurzeit bin ich eine große Freundin von »auf eigene Faust«, denn so habe ich wenigstens etwas zu tun.

»Also, ich muss wissen, ob ich es nur mit dem Tumor zu tun habe oder ob mein Gegner vielleicht viel größer ist. Und ich muss das jetzt wissen«, flehe ich meinen Arzt an, der daraufhin sofort einen Termin bei seinem Kollegen zum Röntgen vereinbart.

»Das bekommen wir sofort hin. Für den Rest benötigen wir ein bisschen mehr Zeit«, erklärt er mir.

»Ich kann Ihnen was zum Schlafen und gegen die Ängste aufschreiben«, bietet er mir noch sehr freundlich an. Verlockendes Angebot! Das mit dem Schlafen ist nämlich eine tolle Sache, wenn man es denn kann. Schon in der ersten Nacht nach der Diagnose war es gar nicht mehr so einfach. Mehr als zwei Stunden waren nicht drin – der Rest war endlos lange Nacht, in der die eigenen Gedanken zu Hauptdarstellern der verschiedensten Horrorfilme wurden, die sich in Sachen Dramaturgie locker mit Alfred Hitchcock hätten messen können.

Also nehme ich das Angebot »was zum Schlafen« gern an und das sollte sich als eine der besten Entscheidungen meines Lebens herausstellen. (Rückblickend habe ich diese Schlaftabletten nur drei Tage lang genommen, danach konnte ich wieder ohne Hilfsmittel schlafen. Aber diese drei Nächte waren wichtig.)

Auch das Angebot an Angsthemmern klingt verlockend, aber ich schlage es bewusst aus. Ich will das ganze Szenario bewusst und unvernebelt erleben. Nicht, weil ich mich gern quäle, sondern weil ich der festen Überzeugung bin, dass dieses Kapitel für irgendetwas in meinem Leben gut sein wird. Ich glaube fest daran, dass ich all das hier aus einem gewissen Grund durchmache, und ich muss wissen, welcher das ist. Recht schnell habe ich für mich beschlossen, dass ich diese Zeit sehr bewusst wahrnehmen will, um ihr etwas Gutes abzugewinnen.

Eine Stunde später finde ich mich zum Röntgen in einer wieder neuen Praxis ein. In den letzten 24 Stunden habe ich mehr Praxen und Ärzte gesehen als in den gesamten 32 Jahren zuvor.

Der Ablauf von Röntgenuntersuchungen ist bekannt und vertraut. Aufmerksame, routinierte Assistentinnen machen die Aufnahmen, schicken den Patienten zurück ins Wartezimmer, bis er mit dem Arzt die Ergebnisse besprechen kann. Im Normalfall alles kein Problem. Nur wenige Stunden nach einer gesicherten Krebsdiagnose dagegen fast schon eine Katastrophe, denn erneut heißt es: Warten! Und warten bedeutet wieder Kopfkino. Vorhang auf und Bühne frei! Das heutige Programm: »Nicoles Endzeit-Szenario«. Vergessen sind die aufmunternden Worte meines Helden Dr. Bertram. Jetzt ist sie wieder da, diese Panik.

Und die netten Assistentinnen hier vor Ort tragen nicht zu meiner Beruhigung bei. Denn sie dürfen nichts sagen, während meine Metastasen oder nicht vor ihnen auf dem Monitor erscheinen.

»Wie viele Jahre machen Sie das hier schon?«, frage ich scheinheilig.

»23 Jahre bin ich jetzt hier.«

»Dann können Sie mir doch bestimmt was sagen, zu dem, was Sie da sehen.«

»Darf ich nicht!«

Oh, aber nett lächeln dürfte sie doch! Würde sie auch bestimmt, wenn das Ergebnis gut wäre. Ergo ist es das nicht. Oh, Gott! Metastasen im Thorax. Na, prima! Aber der Dr. Bertram hatte doch gesagt … Ach, was weiß der schon? Der ist ja noch so jung. Wer weiß, wie lange er überhaupt schon praktiziert? Ich werde sterben! Ich habe überall Metastasen, seit Tagen schmerzt mich auch schon die, mmh, die … ja, was eigentlich? Irgendwas schmerzt doch bestimmt! Meine Augen füllen sich mit Tränen.

»Warten Sie bitte noch im Wartezimmer, der Doktor ruft Sie gleich auf.«

Natürlich! Ich warte gern. Sehr gern. Mein Mann wartet neben mir. Das Wartezimmer ist voll und es wird immer voller. Einer nach dem anderen wird aufgerufen. Auch die, die nach mir kamen. Mein Mann drückt nur meine Hand. Wir sagen nichts. Ich kann auch nicht reden, denn ich überlege mir gerade den Text meiner Trauerkarte. Ich möchte nicht, dass einer Schwarz trägt und ich will keine Blumen. Ich möchte Organe spenden. Ach Quatsch – ich habe ja Krebs! Die Organe will keiner mehr. Ob die Menschen um mich weinen werden?

»Herr Schmitz, bitte in Raum drei!«

Ob mein Mann eine neue Frau findet? Das soll er bloß nicht wagen! Er soll trauern! Sein Leben lang! Bin ich zu egoistisch? Aber wehe, die Neue ist nicht lieb zu den Kindern.

»Frau Müller, in Raum eins bitte!«

Die kam doch viel später als ich, diese Frau Müller! Na schön, ich bin die Letzte, die aufgerufen wird. So sieht wenigstens keiner, wie ich die Fassung verliere, wenn ich mein Todesurteil erhalte.

Am besten ziehen meine Eltern zu uns. Dann ist mein Mann nicht allein, hat Hilfe, und die Kinder haben Oma und Opa. Ja, so ist es am besten. Mama wird auch jede neue Frau in die Flucht schlagen. Wehe, die Kinder sagen »Mama« zu der Schnepfe! So weit kommt es noch. Ich bin jetzt schon sauer auf meinen Mann – rein prophylaktisch.

»Frau Staudinger, bitte in Raum zwei!«

Ich bleibe sitzen. Mein Mann stupst mich an. Ich gehe da nicht rein. Wofür? Um mir das Unvermeidliche anzuhören? Dass ich sterben muss? Ich sehe mich um, bin tatsächlich die Letzte in der Praxis … Recht hatte ich!

»Kommen Sie rein und setzen Sie sich«, sagt der nette ältere Arzt. Ich weiß noch nicht mal seinen Namen. Lohnt sich jetzt auch nicht mehr, neue Leute kennenzulernen und schon gar nicht mit Namen.

»Ich will mich nicht setzen. Sagen Sie es mir einfach!«

Rückblickend habe ich es vielen Menschen wirklich nicht leicht gemacht. Dieser sehr erfahrene Arzt – ich sollte mich doch noch einmal nach seinem Namen erkundigen – hat offensichtlich alle Psychologieseminare doppelt belegt. Seine Augen werden mit einem Mal so warm und verständnisvoll, und ohne groß drum herumzureden, lächelt er mich an und nimmt meine Hand.

»Es ist alles in Ordnung. Wir haben ja noch die Vergleichsaufnahmen von vor zwei Jahren, und es steht zweifelsohne fest, dass hier alles bestens ist!«

Und schon wieder verliebe ich mich in einen mir vollkommen fremden Mann. Schlimmer noch, ich werde sogar körperlich, denn ich falle ihm um den Hals und frage: »Keine Metastasen im Thorax?«

»Keine Metastasen im Thorax.«

Er will noch wissen, wie lange ich die Diagnose schon habe, und versichert mir, wie gut Brustkrebs zu behandeln sei. Dann wünscht er mir alles erdenklich Gute. Ich wünsche ihm mindestens einen Lottogewinn und zehn pralle Blondinen. Spontan fällt mir mein Held Dr. Bertram wieder ein, der mit seiner enormen Berufs­erfahrung genau das vorhergesagt hatte. Mein Held eben! Der kann schon was!

»Wusste ich doch, Hase. Alles ist gut«, versichere ich völlig selbstsicher.

Wenn ich den Krebs hinter mir habe, sollte ich mich vielleicht auch mal auf Paranoia untersuchen lassen …

Brüste umständehalber abzugeben

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