Читать книгу Brüste umständehalber abzugeben - Nicole Staudinger - Страница 9
Zwischenstück:
Laufen oder weglaufen?
ОглавлениеEs gibt Menschen, deren ganzes Leben durch eine Krankheit in ein vollkommen neues Licht gerückt wird. Erst krank bemerken sie, worauf es im Leben ankommt. Sie erfahren neu, wie wichtig Kinder, Familie und Nicht-Materielles sind. Sie ordnen ihre Prioritäten und fühlen sich erleuchtet. Sie sortieren ihren Freundeskreis, stellen die Ernährung um und können zum ersten Mal den Sonnenschein genießen, der durch die Bäume strahlt.
Zu diesen Menschen gehöre ich nicht. Nicht, weil ich das eben Erwähnte blöd fände, sondern weil ich all das schon vorher zu schätzen wusste.
Ich war jeden Tag, wirklich jeden Tag, dankbar für das, was ich habe. Ich habe meine Gesundheit nie für selbstverständlich gehalten. Mag sein, dass es in unserer Familie schon ausreichend Denkzettel gegeben hat, die unsere Prioritäten schon Jahre zuvor richtig geordnet haben. Vor etwa einem Jahr habe ich meinen wirklich gut bezahlten Job aufgegeben. Ich wollte nicht mehr in Hetze leben. Und: Nach dem Hautkrebs habe ich das Joggen für mich entdeckt. Ich wollte dem Krebs davonlaufen, stattdessen bin ich ihm mitten in die Arme gerannt. Obwohl … vielleicht ist das Quatsch! Vielleicht sollte das alles so sein. Vielleicht sollte ich laufen lernen, damit ich auf dem Weg, der jetzt vor mir liegt, auch nicht ins Straucheln gerate.
Nach der Krebsdiagnose im Juli 2012, als der Hautarzt mir telefonisch mitteilte: »Es tut mir leid, es war ein Melanom … aber keine Sorge, nach einem Sicherheitsschnitt ist alles wieder in Ordnung, es wurde schon im Gesunden entfernt«, entschied ich mich für den Besuch einer Lauflernschule. Irgendetwas musste passieren. Durch meinen stressigen Job, die zweite Schwangerschaft und vor allem durch viel zu viel Essen hatte ich wirklich reichlich zugenommen und mein Lebenswandel war ungesund. Der Krebs war eigentlich nur die logische Konsequenz.
Das Programm versprach 30 Minuten Laufen am Stück in nur zwölf Wochen. Ich war motiviert bis in die Haarspitzen und ging natürlich erst einmal einkaufen. Laufkleidung und Schuhe. Das Beste vom Besten. Dick? Okay. Unsportlich? Okay. Aber unstylish: niemals!
Einmal die Woche fand das Training auf dem Sportplatz unter freiem Himmel und bei jedem, wirklich jedem Wetter statt. Einlaufen und Koordinationsübungen. Wobei das Einlaufen bei uns Anfängern ja schnell ging. Wir starteten mit 30 Sekunden am Stück.
›Lächerlich‹, wollte ich gerade noch sagen, konnte es aber nicht mehr, weil mir bereits nach sieben Sekunden die Luft dazu fehlte. Nach zehn Sekunden fragte ich mich, warum die Stoppuhr der Trainerin nicht funktionierte, nach 15 Sekunden war ich überzeugt, dass das hier nicht das Richtige für mich sei, und nach genau 30 Sekunden war ich dem Tod näher als dem Leben.
Ich hatte ein Stück Arbeit vor mir, das war klar. Neben dem wöchentlichen Training vor Ort bekamen wir natürlich auch Hausaufgaben auf. Klar, sonst wäre das mit den zwölf Wochen ja auch recht knapp geworden.
Das Training war wider Erwarten das Beste, was mir passieren konnte. Ich habe fleißig mitgemacht, war immer da, habe die Hausaufgaben stets absolviert, bin bei Wind und Wetter gelaufen und kam mir vor wie Rocky Balboas Tochter.
Und siehe da, meine ersten 30 Minuten am Stück lief ich an einem Donnerstagabend im Februar bei zwei Grad und Eisregen. Es war ein wunderbares Gefühl, und ich wünschte, meine ehemalige Sportlehrerin hätte mich sehen können. Da ich früher niemals eine Ehren-, geschweige denn eine Siegerurkunde erkämpfen, sondern immer nur eine Teilnehmerurkunde mit nach Hause bringen konnte, kam das erste Sportabzeichen also mit rund zwanzigjähriger Verspätung.
Von jenem Tag an habe ich mit dem Laufen nie wieder aufgehört. Ich muss aber jetzt ehrlicherweise sagen, dass es mir nie Spaß gemacht hat, weder davor, noch währenddessen und auch nicht danach.
Und dennoch, durch das Laufen lernte ich Astrid kennen und allein dafür hat es sich schon gelohnt. Sie ist mir eine liebe Freundin geworden. Wir haben uns beim Laufen oft über Krebs unterhalten. Warum? Weiß ich gar nicht, vielleicht, weil wir keine Angst davor hatten. Zu unseren Höchstzeiten liefen wir jeden zweiten Tag sieben Kilometer und kamen uns unsterblich vor. Ich nahm 15 Kilo ab, kündigte, wie gesagt, meinen Job und begann meine Laufbahn als Trainerin. Die Kinder waren gesund, ich gehörte zu den sportlich aktiven Newcomern. Alles passte, es lief perfekt! Und: Es sollte ja so anders kommen.