Читать книгу Brüste umständehalber abzugeben - Nicole Staudinger - Страница 6
»Das sieht nicht gut aus«
ОглавлениеDreißig Minuten später stehen meine Eltern vor der Tür. So ist das immer in meinem Leben. Sie stehen hinter mir – egal, worum es geht. Ohne zu fragen. Ob ich nun den Ärger der Lehrer auf mich gezogen hatte, von anderen Kindern gehänselt wurde oder Krebs habe. Sie sind immer da. Früher wie heute und jetzt auch.
»Wir fahren sofort nach Düsseldorf zur Mammographie«, sagt meine Mutter. Ich gehorche und steige ins Auto. Während der Fahrt versichert sie mir, dass das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Zyste sei. Ganz, ganz sicher. Unterwegs lässt sie es sich aber nicht nehmen, bei Dr. Ach-Ja-Riesenproblem anzurufen, um zu fragen, was das denn für eine Art sei, mit den Patienten zu reden. So ist sie, meine Mutter.
Der Herr Doktor antwortet knapp, für mich aber nicht überraschend: »Auf so ein Gespräch habe ich jetzt gar keinen Bock!« Dann legt er auf. Auf was hat dieser Mann eigentlich Bock? Egal. Um den kümmern wir uns später.
Die Praxis in Düsseldorf ist edel, groß und hell, und es ist still. Sehr still. Wir müssen warten. Eine Beschäftigung, die ich in den nächsten Wochen noch zu hassen lernen werde wie nichts anderes auf der Welt. Das Warten: verschenkte Lebenszeit und vor allem der perfekte Nährboden für das Kopfkino. Binnen zehn Minuten denke ich mich bis zur Beerdigung. Es ist mir völlig neu, dass der Kopf in diesem Maße auch körperliche Schmerzen verursachen kann. Gedanken beeinflussen unser Tun und Handeln. Schon klar! Aber dass sie mir auch die Luft zum Atmen nehmen, für derartige Panik verantwortlich sein können, ist für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich habe Angst. Meine Mutter auch. Es sind die schlimmsten Minuten unseres Lebens. Gestern war doch noch alles in Ordnung. Gestern noch war es meine größte Sorge, was ich mittags kochen soll. Heute warte ich auf eine Mammographie, um zu erfahren, was sich da in mir breitgemacht hat.
Die Untersuchung an sich geht schnell, es ist schmerzhaft. Dann wieder warten.
Nur das Wartezimmer hat gewechselt. Wir sitzen nun in der Umkleidekabine vor dem Sprechzimmer der Ärztin. Meine Mutter steht neben mir. Uns beiden ist schlecht. Sie scheint in den letzten Minuten um Jahre gealtert zu sein. Sie so leiden zu sehen zerreißt mir das Herz. Dann werden wir aufgerufen.
Im Gegensatz zu dem grobschlächtigen Landarzt von heute morgen scheint diese Ärztin eher sehr warmherzig zu sein. Aber sie guckt nicht warmherzig, sondern besorgt. Sehr besorgt.
»Frau Staudinger. Es tut mir sehr leid, aber die Aufnahmen sind recht eindeutig. Das sieht nicht gut aus. Wir haben es hier höchstwahrscheinlich mit Krebs zu tun.«
BOOM. PENG. Da war das Wort. Ich. Krebs. Kann nicht sein. Darf nicht sein. In meinem Alter bekommt man keinen Krebs. Außerdem habe ich Kinder, da darf man ja auch gar keinen Krebs bekommen!
»Ich mache jetzt noch einen Ultraschall, um nochmal genauer zu schauen.« Dann sagt sie komische Sachen wie: »Der Tumor sieht gut aus. Er ist klar abgrenzbar, gut zu schallen, wirft keine Schatten. Und die Lymphen sehen auch noch gut aus.«
Herzlichen Glückwunsch! Sie haben einen wunderschönen Tumor! Ich freue mich. Krebs! Aber schöner Krebs! Klasse!
Weiter meint sie, dass es sich aufgrund dieser Hinweise auch um eine Zyste handeln könnte, wäre da nicht diese eine Sache, die es dann doch eindeutig macht. Während eine Zyste Blutgefäße verdrängt, zieht ein Tumor sie mit ein. Und das wäre hier eindeutig zu sehen.
Erst heute weiß ich, welches Glück ich hatte, an eine so gute Ärztin geraten zu sein. Sie spricht mir unvermittelt Mut zu, redet davon, wie gut Brustkrebs heilbar sei und wie weit die Forschung wäre.
Im Moment aber sehe ich nur den Tod. Glatzköpfige, ausgemergelte Menschen. Ich sehe meinen Kleinen nach seiner Mama fragen und meinen Mann zum Himmel zeigen: »Die Mama ist doch jetzt da oben.«
Ich sehe meine Mutter völlig zusammengesunken auf dem Stuhl sitzen. Nur den Kopf schütteln.
Ich sehe mich, auf einem Krankenbett, wie ich mich von meinen Lieben verabschiede. Ich sehe Panik. Rot. Tod. Schmerz. Leid. Zwei Halbwaisen. Das war’s! Kein Altwerden mit meinem Mann! Kein »glücklich, bis an ihr Lebensende«. Nur Krebs. Ich habe Krebs! Und ich habe nichts davon gemerkt! Ich habe vor vier Wochen mein Seminar gehalten. Vor 50 Frauen, und da war ich schon krank. Wie kann das sein? Ich bin fit, jung und doch so gesund …
»Ich werde Sie jetzt zu einem Brustzentrum überweisen für eine Biopsie«, holt die warmherzige, aber besorgte Ärztin mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität.
Die Dame am Empfang hat irgendwie Mitleid mit mir. Sie schwingt sich sofort ans Telefon und bekommt – Gott sei Dank! – einen Biopsietermin für den nächsten Morgen in Düsseldorf.
»Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute«, verabschiedet sich die Ärztin mit einem sanften, aufbauenden und zugleich ernsten Tonfall. An ihrer Stimme meine ich zu hören, dass sie den Weg schon kennt, der mir jetzt bevorsteht.
Wir fahren nach Hause. Ich, meine Eltern und der Krebs. Mein Vater, der unten gewartet hat, verliert augenblicklich die Farbe. Er sagt nicht viel. Genauer gesagt, sagt er gar nichts und fährt uns einfach nur nach Hause. Wahrscheinlich schweifen seine Gedanken in dieselbe Richtung wie die meinen.
Mein Gott, womit haben meine Eltern das verdient? Haben sie doch vor vielen Jahren bereits ein Kind verloren. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Jetzt, wo ich selbst Kinder habe, weiß ich, wie viel schlimmer ihr Leid ist als mein eigenes. Im Auto rufe ich meinen Mann an.
»Es ist Krebs, Hase.«
»Och neee, Maus!«, sagt er – und verstummt. Ich schreie und brülle, kann das alles nicht glauben.
Noch im Auto rufe ich zwei Freundinnen an. Die eine ist im Urlaub und sitzt gerade auf dem Fahrrad – nur knapp entgeht sie einem durch mich verursachten Unfall. Sie reagieren wie ich: der totale Schock. Unverständnis. Eben war noch alles gut, jetzt ist es vorbei.
Wir wohnen in einem ruhigen, kleinen Ort vor den Toren Kölns. Unsere Wohngegend würden die einen als idyllisch beschreiben, die anderen als spießig. Ich aber liebe unser Leben hier, denn die Kinder können wunderbar auf der Straße spielen, ohne gleich vom Auto angefahren zu werden. Die Nachbarn sind nett und wir fühlen uns hier seit ein paar Jahren richtig heimisch. Heute aber kann ich unser Haus kaum betreten. Ich habe das Gefühl, dass ich mit dem Krebs die Atmosphäre vergifte.
Hier in unserem Haus wird es endlich real. In Düsseldorf war der Krebs in der klinischen Umgebung noch auf merkwürdige Art und Weise gefangen, aber hier macht er sich nun breit und verspritzt sein Gift in jede Ritze unseres Lebens und unseres Heims.
Die Kinder sind bereits zu Hause. Mein Mann hat sie schon vom Kindergarten abgeholt und sie stürmen auf mich zu.
»Maaaamaaaa!«
Ich kann das nicht. Ich glaube, der Schmerz bringt mich augenblicklich um. Einerseits kann ich sie nicht mehr loslassen und andererseits traue ich mich nicht an sie heran. Meine armen Mäuse! Bald werden sie ohne ihre Mama sein. Wie sollen sie das schaffen? Wer soll sie beschützen? Wer wird ihnen abends vorlesen und beim Einschlafen sanft über den Kopf streicheln? Wer wird sie beim ersten Liebeskummer trösten und wer ihnen die Leviten lesen, wenn sie nicht pünktlich nach Hause kommen? Wie soll mein Mann das schaffen? Als alleinerziehender Vater? Meine Seele quält sich. Es tut so weh!
Oma und Opa bleiben den gesamten Nachmittag bei uns und spielen mit den beiden Jungs – so gut es geht. Mein Mann und ich haben auf diese Weise Zeit zu reden. Wir können es aber nicht wirklich, denn es gibt ja auch nicht viel zu sagen. Ja, ich habe wohl Krebs. Aber mehr wissen wir noch nicht.
Meine Mutter ist die Erste von uns, die wieder bei Besinnung ist – zumindest tut sie so.
»Maus, du hast gehört, was die Ärztin gesagt hat. Die Lymphen sehen noch gut aus. Du hast ihn ganz früh getastet. Wir schaffen das.«
»Und wenn nicht?«
»Das ist keine Option!«
»Mama, was, wenn ich das nicht schaffe?« Wir fangen beide an zu weinen.
»Jetzt hör mir zu«. Sie sieht mich ernst an und sagt in einem Tonfall, den ich so noch nie von ihr gehört habe: »Ich habe gesagt: DAS IST KEINE OPTION!«
Ich weiß nicht, wie ich den Tag zu Ende gebracht habe. Ich weiß nur, dass ich neben Max im großen Bett eingeschlafen bin und nachts immer wieder wach werde, die ersten zwei Herzschläge lang in der festen Überzeugung, dass alles nur ein böser Traum ist. Ist es aber nicht. Ich habe Krebs. Warum ich? War ich so böse? Was habe ich verbrochen?