Читать книгу Brüste umständehalber abzugeben - Nicole Staudinger - Страница 17
Die Hölle – besser bekannt als Knochenszintigraphie
ОглавлениеDie Diagnose ist acht Tage alt und ich habe mich auf erschreckende Art und Weise an dieses Krebsding gewöhnt, nicht aber an den psychischen Stress vor einer Untersuchung. Heute steht das Knochenszintigramm auf dem Programm, die dritte und letzte Untersuchung im Rahmen des Stagings. Die Suche nach möglichen Metastasen ist für mich schlimmer als alles andere. Mit Karl Arsch komme ich zurecht. Das Kriegsgebiet beschränkt sich ja ›nur‹ auf die Brust, aber weitere Herden im Körper schaffe ich nicht. Mein Großvater hatte vor vielen Jahren Prostatakrebs und später im ganzen Körper Metastasen. Er hatte starke Schmerzen und sein Tod war für ihn mehr Erlösung als Strafe.
»Sie haben zu 99 Prozent keine Metastasen«, hallt es mir immer noch von Dr. Bertram nach. Warum fällt es mir nur so schwer, seinen Worten einfach zu vertrauen? Zum ersten Mal im Leben wünsche ich mir, ein Brot zu sein. Und naiv, so naiv, dass ich einfach denken könnte: »Die Ärzte haben doch gesagt, ich werde wieder gesund. Fertig.« Nein, stattdessen habe ich schon wieder diese fürchterliche Panik und diesen riesigen Kloß im Hals.
Meine Mutter holt mich um sieben Uhr morgens zu Hause ab, wir müssen um kurz vor acht in Köln sein, damit mir die radioaktive Flüssigkeit gespritzt werden kann. Diese muss sich dann dreieinhalb (!) Stunden im Körper ausbreiten, bevor die eigentlichen Aufnahmen gemacht werden können, die wiederum ungefähr eine Stunde dauern. Macht alles in allem fast fünf Stunden, bevor ein Arzt mit mir sprechen wird. Ganz ehrlich, das ist unmenschlich. Diese Untersuchung bedarf dringend weiterer Forschungs- und Optimierungsarbeit. Sinn und Zweck des Ganzen ist es, das Skelett und eventuelle Störungen mithilfe der radioaktiven Flüssigkeit darzustellen.
»Am besten, Sie trinken binnen der nächsten Stunden mindestens 1,5 Liter. Das hilft, die Flüssigkeit gut im Körper zu verteilen«, rät mir die blonde, freundliche Arzthelferin. »Dann sehen wir uns in gut drei Stunden wieder.«
Super! Es ist morgens acht Uhr in Köln. Shoppen fällt leider flach, denn die Geschäfte machen ja nicht wegen mir früher auf. Schade eigentlich, denn beim Shoppen vergeht wenigstens die Zeit. Also bleibt erst einmal nur ein Café.
»Maus, du weißt, dass da jetzt nichts zu erwarten ist, oder?«
Mir schießen die Tränen in die Augen. »Woher willst du das so genau wissen?«
»Deine Lymphen sahen auf dem Ultraschall doch ganz normal aus. Wie soll denn sonst was in den Körper gelangt sein?«
»Ich habe im Internet gelesen …«
»Du hattest mir was versprochen!«, unterbricht mich meine Mutter barsch.
Mist! Stimmt ja. Ich sollte ja nicht mehr googeln. Und damit hat sie nicht unrecht. Denn die Ergebnisse, die man mit Google auf das Stichwort »Triple negativ« findet, stimmen alles andere als positiv. Dank dem Autofilling-Google-System erscheinen schon bei der Eingabe »Triple neg…« sofort die Vorschläge »Triple negativ Überlebenschance« oder »Triple negativ Todesurteil?«
Ich hatte eigentlich gedacht, seit Bettina Wulff hätte man Google dieses Autofilling verboten. Wohl nicht – dann wird es aber Zeit! Auf jeden Fall hatte ich über Google meine fundierten medizinischen Kenntnisse intensiviert und viele »Fakten« zum Thema »Schläferzellen« oder »befallene Lymphen trotz unauffälligem Sono« gefunden. Zugegeben, das macht nicht wirklich Mut.
»Ich weiß, was ich versprochen habe. Aber ich muss doch informiert sein«, versuche ich, mich zu rechtfertigen.
»Ja, aber dann frag doch bitte deine Ärzte und nicht das Internet!«
Mist! Jetzt hat sie schon wieder recht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit verlassen wir das Café und bummeln um halb neun über die anliegende, immer noch geschlossene Einkaufsstraße. Meine Mutter gibt sich alle Mühe, meine Gedanken auf irgendwas anderes zu lenken, aber es ist alles zwecklos. Um viertel vor neun ist mein Kloß im Hals so groß, dass ich kaum noch atmen kann. Wieder denke ich an meine Kinder, die beide nichtsahnend im Kindergarten sind. Für Max sind es die letzten Tage in seiner gewohnten Gruppe, bevor er nach den Sommerferien in die Schule kommt. Wenn man mich fragt, ein paar Veränderungen zu viel im Leben: Die Mutter hat Krebs und in die Schule muss er auch noch.
Ob Knochenmetastasen eigentlich wehtun? Wieder fällt mir mein Opa ein, der am Ende starke Schmerzen hatte. Ob man an Knochenmetastasen überhaupt sterben muss? Immerhin sind meine inneren Organe ja frei. Das ist doch schon mal sehr gut.
Aber die Knochen sind doch die Basis …
»Nicole, komm – hier gehen wir mal rein!« Meine Mutter hat ein offenes Schuhgeschäft gefunden. Ich probiere ein paar Sandalen an. Och, die sind aber hübsch und solche habe ich noch gar nicht. Passen prima zu dem Rock, den ich mir letzte Woche gekauft habe.
»Wir nehmen die mit«, entschließt sich meine Mutter.
»Nein.«
»Warum denn nicht?«
»Ich möchte nicht.«
»Aber solche hast du doch noch gar nicht.«
»Mag sein.«
»Ich kaufe sie dir.«
»Nein.«
»Du denkst nicht das, was ich glaube, oder?«
»Keine Ahnung«, lüge ich meine Mutter an, die mich längst durchschaut hat.
»Du denkst: Lohnt sich eh nicht mehr, Schuhe zu kaufen, oder?« Meine Mutter sagt es exakt in dem Tonfall, in dem ich es gedacht habe, und ich muss lachen.
»Ja, warten wir erst mal die Untersuchung ab«, beharre ich dennoch.
»Du tickst ja nicht mehr sauber.«
Es ist mittlerweile halb zehn, noch eine Stunde. Wieder gehen wir in das Café, ohne neue Sandalen – ich muss ja trinken. Uns gegenüber sitzt ein altes Ehepaar und ich kann ihren Anblick kaum ertragen. Ich bin neidisch auf sie. Dabei bin ich gar kein neidischer Mensch und gönne wirklich jedem sein Glück. Aber eben auch mir! Ich will auch so alt werden. Mir mit meinem Mann jeden Mittag im Café ein schönes Stück Sahnetorte gönnen und so richtig schön fett werden. Ich will auch meine Enkelkinder auf dem Schoß schaukeln. Ich will auch Bingo spielen gehen und Musikantenstadl gucken. Obwohl: Das muss jetzt nicht wirklich sein.
Stattdessen aber sitze ich hier und muss um mein Leben bangen. Mit nur 32 Jahren! »Lass uns gehen«, sage ich.
»Es ist noch viel zu früh!«
»Ist mir egal.«
Und so sind wir dreißig Minuten vor Ablauf der Zeit wieder in der Arztpraxis und müssen natürlich das tun, was ich in den letzten Tagen so zu hassen gelernt habe: warten.
»Legen Sie sich bitte auf die Liege und bleiben Sie ganz still. Ich stelle immer wieder das Gerät über Ihnen ein und so machen wir Stück für Stück die Aufnahmen«, werde ich instruiert. Wir sind in einem sehr großen Untersuchungsraum, meine Mutter darf bei mir bleiben. Über mir schwebt ein großes, undefinierbares medizinisches Instrument, das die Arzthelferin in regelmäßigen Abständen über meinem Körper justiert. Auf dem Bildschirm vor ihr erscheinen relativ schnell Aufnahmen meines Skeletts. Meine Mutter hat freien Blick auf die Bilder, ich erhasche nur Auszüge aus dem Augenwinkel.
»Und? Was sehen Sie?«
»Ich darf Ihnen leider nichts sagen, das macht der Arzt gleich.«
Oh, wie ich das hasse! Kann sie nicht sagen: »Genaueres bespricht gleich der Arzt, aber ich würde mir keine Sorgen machen«, oder sonst etwas, was meinen Puls auf einen normalen Modus zurückbringen würde?
»Mama, du kennst doch solche Aufnahmen auch. Sag du mir was!«
»Schatz, ich sehe hier nichts. Aber ich bin auch kein Arzt.«
Das darf doch nicht wahr sein, jetzt fängt meine eigene Mutter auch so an! Gut, dann gucke ich eben selbst. Ich drehe meinen Kopf so gut es geht, und meine Augen leisten Schwerstarbeit, aber irgendwie gelingt es mir, einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. Ich sehe ein lilafarbenes Skelett, den Brustkorb mit den Rippen. Und überall auf den Rippen sind Punkte. Unregelmäßige Punkte. Metastasen!
Ich denke, die Schweiz wäre der richtige Ort zum Sterben. Ich warte doch nicht in irgendeinem Hospiz auf den Tod. Das will ich selbst bestimmen. Wie schnell es wohl geht? Bei meinem Opa waren es schon ein paar Jahre, bis er letztlich erlöst wurde. Ich glaube nicht, dass man Knochenmetastasen heilen oder operieren kann.
»Sie haben es geschafft. Warten Sie bitte noch ganz kurz im Wartezimmer, der Arzt ruft Sie ganz schnell. Versprochen.«
Ich höre ihr gar nicht mehr zu. Meine Mutter führt mich nach draußen: »Maus, hallo? Bist du da?«
Nö.
»Maus, es ist ganz sicher alles in Ordnung!«
Ich bin abwesend. Entweder bekomme ich gleich einen Hirnschlag oder einen Herzinfarkt.
»Frau Staudinger bitte.«
Meine Mutter steht sofort auf. Ich nicht.
»Nein, ich gehe da nicht rein!«
Der nette Arzt, den ich vorher kurz kennengelernt hatte, kommt dafür raus zu mir, kniet sich vor mich hin, nimmt meine Hände und spricht in einem sehr väterlichen Ton: »Warum denn nicht? Es ist alles in Ordnung. Nicht zu 100, sondern zu 1000 Prozent.«
Ich höre den spitzen Schrei meiner Mutter, dann schwankt der Boden unter meinen Füßen und ich breche innerlich zusammen.
»Ich kann natürlich nur für die Knochen sprechen«, ergänzt der Arzt noch.
»Es war die letzte Staging-Untersuchung«, antwortet meine Mutter.
»Und die anderen waren alle in Ordnung?«
»Ja.«
»Also ist es nur der Tumor in der Brust?«
»Ja«, auch meine Mutter verliert langsam ihre Stimme.
»Na, dann, ist es doch Pillepalle«, sagt der Arzt und zum dritten Mal binnen sieben Tagen falle ich einem wildfremden, älteren Mann um den Hals – und es fühlt sich gut an.