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Allein waren wir dennoch nicht. Unsere Mutter hatte drei Schwestern, die alle im gleichen Ort lebten und sich um uns kümmerten. Zumindest taten sie eine Menge. Mein Bruder, Vater und ich ertrugen es mit freundlichem Gleichmut. Ich hatte an mir die gleichen Anlagen wie die meines Vaters bemerkt, den alle, seiner Geschicklichkeit mit den Händen, seines langmütigen, ausgleichenden Wesens wegen Peer Patent nannten. Peter Patent hatte der Schifferpastor mich eines Abends eher aus Versehen genannt. Aber es stimmte: Ich konnte die Sonne in meinem Gesicht aufgehen lassen und schweigen, zuhören, leicht ein, zwei gute Worte sagen, wo andere schwiegen, plötzlich und ohne Mühe aufmerksam sein. Das half viel, wenn sich wieder einmal Worte über Worte über uns ergossen.

Denn zumindest zwei der drei Tanten legten sich ordentlich ins Zeug, unseren Männerhaushalt in Schwung zu halten.

Die erste, Charlotte, genannt Lotti, hatte kurze, graue, praktische Haare und noch einen Mann, Karl, der je nach Stimmung »mein Karl«, »Kuddel« oder »Charlie« genannte wurde. Sie war älter als Mutter gewesen. Ihr Ressort waren Wäsche und Vitamine. Einmal in der Woche kam sie und steckte alle Handtücher und Wischlappen, die sie finden konnte, in die Waschmaschine, füllte sie mit Pulver, drehte sie auf sehr heiß und schloss mit einem vernehmlichen Geräusch, als wollte sie ein Ausrufezeichen am Ende ihrer Tat setzen, die Maschine, die sofort begann zu schäumen. Überhaupt lebte sie in einer Welt voller Feststellungen, Aussagen, Gewissheiten, manchmal beneidete ich sie darum. Sie brachte einmal in der Woche Essen, »mein Karl und ich schaffen das doch nicht«, natürlich ohnehin zum Vorbeibringen eingeplante Reste, außerdem Röllchen aus der Apotheke, um unsere Abwehrkräfte mobil zu halten. Wenn wir wirklich das ganze Zeug aufgelöst in Wasser getrunken hätten, unser Körper hätte vermutlich täglich stolz Heerschau halten können in der Gewissheit, dass nichts ihn besiegen könne. Frerk und ich tranken einige Jahre später einmal einige Rollen der Vitamin-C-Brausetabletten gemischt mit Wodka in Ermangelung richtigen Orangensaftes. Ging auch.

Die zweite Tante hieß Trudi, sie arbeitete im Gemeindebüro und hatte eine kunstvolle Dauerwelle, keinen Mann mehr, dafür aber noch ihren Schwiegervater Heinrich, der viel Zeit und Kraft in Anspruch nahm. »Du kannst es dir nicht vorstellen! Nein, kannst du nicht.« Sie kam oft zu uns, nur so von Haus zu Haus, wie sie stets sagte. Wobei ich nicht verstand, warum »von Haus zu Haus«, von wo nach wo denn sonst? Sie tat ebenso scharf wie ihre große Schwester, war aber von wärmerem und zugänglicherem Wesen als diese. Was sie sagte, sang sie in einer höher steigenden Melodie, manchmal bis zum Schrillen gesteigert, um dann wieder in tiefsten Tiefen im nächsten Satz zu starten.

Sie kümmerte sich um unser geistiges und geistliches Wohl. Mahnte meinen Vater und Frerk, mich nicht, ich ging ohnehin oft, am Sonntag in den Gottesdienst zu kommen. Brachte ausgelesene, aber für uns als noch brauchbar bewertete Zeitungen der letzten Woche mit, manchmal aber auch eine, wie sie stolz sagte, »frische«, die sie, als sei es eine besonders schön eingepackte Praline und nicht eine weitere graue Zeitung, oben auf den Stapel platzierte. Unten in dem Haufen tauchten in letzter Zeit häufiger als früher christliche Erbauungsschriften auf, Blätter, in denen die abgebildeten Jesusse mit zum Himmel verdrehten Augen offensichtlich um ihren Verstand rangen, ob des Treibens auf Erden, Magazine, die das sichere und, vor allem, baldige Ende nicht nur prophezeiten, sondern leibhaftig davon kündeten, quasi mit Fahrplan aller vier apokalyptischen Reiter.

Und dann war da noch schließlich die jüngste: Helene, genannt Tante Leni. Lehrerin. Sie lachte viel. Lebte allein, rauchte, hatte rot gefärbte lange Haare, wechselnde Freunde und Verehrer, was für ihre beiden älteren Schwestern, je älter sie wurden, schlechter zu ertragen war. Sie kümmerte sich um den Garten, das heißt, nicht um den Rasen, das sei Männerarbeit, war sie der Ansicht, sondern um die Blumen und Sträucher. Sie ging zuerst und sah nach den Magnolien, dann nach den Männern, wie sie sagte.

Sie kam selten und dann wollte sie Klavier spielen, solo und mit mir vierhändig, wobei ihr ein, zwei rote Strähnen ins Gesicht fielen, die sie anschließend hochpustete. »So sieht es hier also aus«, sagte sie amüsiert, kurvte nach dem Spiel herum auf dem drehbaren Klavierhocker, und freute sich, wenn ich ihr Kaffee kochte. Sie musterte mich in meiner ausladenden Nadelstreifenhose und in meinem weiten, weißen Fischerhemd, das ich mir in dem Andenkenladen gekauft hatte und ließ zum Spaß die altmodischen Hosenträger wieder auf meine dünne Brust zurückschnappen. Ich hatte sie meinem Vater aus der Schublade genommen, er hatte es entweder nicht bemerkt oder mit Absicht übersehen. Jedenfalls trug ich sie, mit dem Stolz und der modischen Gewissheit, zu der nur ein 16-, 17-Jähriger fähig ist.

Leni redete uns am wenigsten rein, sie führte sich nicht auf wie eine Ersatzmutter, dabei war ich ihr Patenkind. Wenn sie etwas an uns auszusetzen hatte, wiegte sie mit der Zunge schnalzend den Kopf und sorgte damit dafür, dass auch wir endlich die Löcher am Ellenbogen im Pullover unseres Vaters bemerkten und diesen zur Schneiderin gaben.

Noch etwas war wichtig. Trotz aller Streitereien und gegenseitigen Maßregelungen: Alle drei liebten sich und sie liebten uns. Eigene Kinder hatten sie keine. Dann hatten sie vor einigen Jahren auch noch ihre Schwester verloren. Sie weinten mit Vater, Frerk und mir am Grab und hielten uns seither fest zu jeder Begrüßung und zu jedem Abschied, als wollten sie das Leben, auch das, welches von ihrer Schwester noch da war, retten.

Vater mochte die drei gern. Er lächelte gleichmütig und brummte, zustimmend, ein wenig spöttisch, staunend.

Grosse Fahne West

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