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Wenn man eine Uhr auf einem deutschen Bahnhof betrachtet, und in der Regel tut man das, wenn man dort ist, dann wird man vieles feststellen. Meistens, aber das sei ausgelassen, dass der Zug zu spät da ist. Manchmal vielleicht aber auch, dass die Uhr immer gleich aussieht. Ein blasses, nämlich weißes Gesicht, Striche als Markierungen, keine Ziffern, anstelle derer aber längere schwarze Striche. Dazu gerade Zeiger ohne Spitze oder Kopf. Einzige Ausnahme, es geht bei der Bahn eben besonders um kleine Zeiteinheiten: der Sekundenzeiger. Eine lautlos, grenzenlos in der Runde schwebende Kelle mit Loch. Eine rote Lupe auf Wanderschaft, auf der Suche vielleicht.

Hat der rote Reiter eine weitere Runde gedreht, ohne zu zucken oder zu stolpern wie bei anderen Uhren, kommt er unausweichlich, gleichförmig, schwebend an die Zwölf, die volle Stunde, aus seiner Sicht die volle Minute. Er bleibt, wider Erwarten nach der ungebremsten Runde, auf dieser stehen, bis der Minutenzeiger – dramatisch genug – zur folgenden Position, eben eine Minute weiter, fortspringt, als müsste er den Platz aufrücken. Er springt um, zittert im Stand wie ein Turner, der vom Reck federt.

Erst dann startet der Sekundenzeiger erneut, beginnt seine nächste Gleitrunde um den gleichen blassen Parcours.

Der Sekundenzeiger wartet höflich auf den Sprung des großen Bruders und setzt seine eigene hastige Runde aus. Die Zeit steht still in diesem Moment. Und das auf der Uhr, die als absolut zuverlässigste gilt, die nicht nur mit ihrer Anzeige die Nerven der Reisenden beruhigt oder zum Flattern bringt, die aus Gehenden Rennende macht, aus Reisenden Rasende. An ihr scheint der gesamte Betrieb zu hängen. Der Puls des Eisens. Der Vollzug des Plans, des Fahrplans, das Pfeifen, das satte, gummigebremste Einrasten der Türen, das Winken des Zugchefs, die langsame, schneller werdende Bewegung des Zuges.

Wissen die Dinge, dass ihr Antrieb, die Bahnhofsuhr, genau genommen falsch geht? Der Sekundenzeiger wartet, bis der Minutenzeiger umspringt, und zwar länger als eine Sekunde. Was wie ein höflich gewährter Vortritt des Älteren, Bedeutenderen aussieht, ist in Wahrheit länger, als es sich für eine Sekunde gehört. Es dauert exakt eineinhalb Sekunden, die – natürlich, denn die Minuten müssen ja zumindest stimmen, im nächsten Rund wieder eingeholt werden müssen, die Sekundenzeigerrunde dauert also bis zum anderthalb sekündigen Stillstand präzise 58 einhalb Sekunden.

Kann das große Ganze nur funktionieren, wenn es im Kleinen nicht stimmt? Ist die kleine Mogelei, die übersehene Ungenauigkeit, die in Kauf genommene Unschärfe am Ende sogar die Voraussetzung für das große Gelingen, die funktionierende Wirklichkeit, die allgemeine, von allen anzuerkennende Wahrheit?

Dreht sich die Welt nur ruhig und gleich, wenn man darüber hinwegsieht, zu welchem Preis?

Grosse Fahne West

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