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Materialistischer und kulturalistischer Zugang
ОглавлениеWir können zwei grundsätzliche Zugänge der Umweltgeschichte unterscheiden: einen materialistischen und einen kulturalistischen. Beim materialistischen Zugang steht die Rekonstruktion vergangener Umweltbedingungen und materieller Interaktionen zwischen Gesellschaften und Umwelt im Zentrum. Die Gesamtheit dieser Interaktionen wird im Anschluss an Karl Marx auch als gesellschaftlicher Stoffwechsel oder sozialer Metabolismus bezeichnet.16 Dessen Form, Umfang und Wandel wird etwa mittels Stoffflussanalysen zu rekonstruieren gesucht. Der Energieumsatz einer Gesellschaft kann als generalisierte Messgröße dienen, da sämtliche Stoffumwandlungen Energie benötigen oder freisetzen: von der Photosynthese der Pflanzen über die Nahrungsverwertung in tierischen und menschlichen Körpern bis zur Produktion von Wärme und mechanischer Bewegung in Arbeitsprozessen. Über den Stoffwechsel und den Energieverbrauch können gesellschaftliche Umweltnutzungen und -beeinträchtigungen beschrieben und in ihrem Wandel analysiert werden, wobei selbstverständlich nicht nur der materielle Umfang, sondern auch die spezifische Materialität in den Blick genommen wird.17 So kann beispielsweise rekonstruiert werden, wie viel Wald in einem Gebiet gerodet wurde, aber auch wie viel Wald wieder nachwuchs (was in früheren Studien oft nicht oder zu wenig beachtet worden war). Da Wald nicht gleich Wald ist, wird zudem dem Wandel des Waldes nachgegangen, ob es sich um einen Nieder-, Mittel-^^ oder Hochwald handelte, welche Arten diese Wälder beherbergten, wie die Nutzungen aussahen und etwa auch wie sich die Preise für Bau-^^ und Brennholz und andere Waldprodukte veränderten. Untersuchungen dieser Art sind auf bestimmte Räume und meist über größere Zeiträume angelegt. Sie sind auch universalhistorisch in größtmöglicher räumlicher und zeitlicher Ausdehnung durchgeführt worden.18
Im kulturalistischen Zugriff interessiert, wie Menschen ihre Umwelt und deren Veränderungen wahrgenommen und bewertet haben und wie sie diese Wahrnehmungen und Bewertungen gesellschaftlich verarbeiteten: in Diskursen, Symbolen und Handlungen. Während der materialistische Zugang die strukturelle Ebene rekonstruiert und analysiert, rückt der kulturalistische Zugang die menschlichen Akteure und deren Bedeutungszuschreibungen in den Mittelpunkt. Welchen Wert maßen die Zeitgenossen dem Wald zu? Wie beschrieben und deuteten sie ihn? Galt er ihnen als einladend oder als unheimlich, als heilig oder als profan? Wie wandelten sich ihre Ansichten, und existierten zur selben Zeit divergierende Einstellungen, die vielleicht wiederum bestimmten sozialen Gruppen zugeordnet werden können? Zudem interessiert, wie sich politische Institutionen herausbildeten, die den gesell-schaftlichen Umgang mit Umwelt regelten, etwa Waldaufseher und Forstregale.19
Im Zuge der Etablierung der Umweltgeschichte und deren Konturierung wurden in den 1980er und 1990er Jahren ausführliche Debatten darüber ausgetragen, welcher dieser Zugänge Vorrang haben sollte.20 Mit der fachlichen Konsolidierung und Festigung sind diese Debatten abgeebbt und haben der Einsicht Platz gemacht, dass es nicht nur Raum für beide Zugänge gibt, sondern dass für eine integrale Umweltgeschichte beide Zugangsweisen vonnöten sind, da sich nur in ihrer Kombination die umwelthistorische Vision einlösen lässt, vergangene Gesellschaften in den Wechselwirkungen mit ihren Umwelten darzustellen. „That vision is inclusive – neither simply idealist nor only materialist, but always necessarily both.”21
Martin Schmid und Verena Winiwarter haben vorgeschlagen, Umweltgeschichte als „Metamorphose sozionaturaler Schauplätze, als Prozess ihres Wandels“, zu untersuchen.22 Während ich das Attribut sozionatural übernehme, ziehe ich dem Begriff des Schauplatzes den offeneren und weniger metaphorischen Begriff der Verhältnisse vor. Schauplatz mag als räumlicher Begriff für umwelthistorische Untersuchungen passend erscheinen, da diese oft, aber nicht immer, einen expliziten und spezifischen Raumbezug haben.23 Im üblichen Sprachgebrauch wird der Begriff allerdings als „Schauplatz des Geschehens“ und somit als Bühne menschlicher Aktivitäten verwendet, was, wie wir gleich sehen werden, der umwelthistorischen Konzeption einer aktiven Natur entgegenläuft. Für die Begrifflichkeit der sozionaturalen Verhältnisse spricht, dass das Wort „Verhältnisse“ dialektische Qualität besitzt: Es kann zugleich Beziehungen und Umstände meinen. Zudem können sich Verhältnisse ändern, sie lassen sich aber auch aktiv verändern.24