Читать книгу Umweltgeschichte - Patrick Kupper - Страница 23
Multiple Skalen
ОглавлениеDie wichtigste Bezugsgröße geschichtswissenschaftlichen Arbeitens war und ist die Nation. Selbst wenn die Untersuchungseinheit nicht der Nationalstaat bildete, sondern eine kleinere Einheit gewählt wurde, wie eine Stadt, eine Region oder ein Gliedstaat, oder aber die Untersuchung über die Grenzen des Nationalstaats hinausging und etwa internationale Entwicklungen in den Blick nahm, so blieb der Nationalstaat doch in der überwiegenden Zahl der Studien der wesentliche Referenzpunkt. Diese Fixierung auf den Nationalstaat lässt sich, wie eingangs ausgeführt, historiografisch erklären. Soweit sie ideologisch im Nationalismus begründet ist, ist sie als unwissenschaftlich abzulehnen und zu überwinden. Allerdings gibt es auch gute Gründe, gerade in der neueren europäischen Geschichte an der nationalstaatlichen Ebene festzuhalten. Schließlich sind Nation und Nationalstaat eine neuzeitliche europäische Erfindung. Aufgrund der weltweiten Dominanz, die europäische und europäisch geprägte Mächte im 19. und 20. Jahrhundert zwischenzeitlich erlangten, ist zudem auch die Globalgeschichte gut beraten, die Kategorie der Nation für diesen Zeitraum nicht nur beizubehalten, sondern ihr zentrale Bedeutung zukommen zu lassen. Denn eines der herausragenden Kennzeichen dieses Zeitabschnitts war die Globalisierung des europäischen Modells des Nationalstaats, das mit dem Niedergang der Imperien zur weltweit dominanten politischen Verfassung aufstieg.87 In der Globalisierungsdebatte der letzten Jahrzehnte wurden Globalisierung und Nationalstaat irreführenderweise zumeist als antagonistische Kräfte diskutiert und die Globalisierung zur Totengräberin nationalstaatlicher Ordnungen stilisiert. Dagegen haben Sebastian Conrad und andere zu Recht eingewendet, dass sich historisch gesehen Prozesse der Globalisierung und des Auf-^^ und Ausbaus von Nationalstaaten gegenseitig bedingten und befruchteten.88 Dieses Argument lässt sich weiter zuspitzen und die Etablierung des Nationalstaats als globaler Standard und die nationalstaatliche Ordnung der Welt als epochales Kennzeichen der Globalisierung bezeichnen.
Die Macht des (National-)Staats stieg in den letzten Jahrhunderten zweifellos enorm an und erhob ihn zur vermutlich einflussreichsten Ordnungsinstanz der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihr Wirken zudem in zentralstaatlichen Archiven öffentlich zugänglich dokumentierte und auch so zu einem unhintergehbaren Dreh-^^ und Angelpunkt der historischen Forschung geworden ist. Der Nationalstaat war auch ein mächtiges Instrument in der Umgestaltung von Natur und Umwelt. Allerdings entzogen sich Natur und Umwelt weit mehr und insbesondere auch systematischer als die menschlichen Bewohner und Bewohnerinnen dem nationalstaatlichen Zugriff. Weder Zugvögel noch Luftströmungen hielten sich an staatliche Grenzziehungen. Gewässer ließen sich zwar „korrigieren“ und wurden zuweilen auch großräumig umgeleitet, an ihrer grundsätzlichen durch die Gravitation bestimmten Fließrichtung von oben nach unten und vom Landesinnern ins Meer war aber nicht zu rütteln. Staatliche Institutionen trieben die Nationalisierung der Natur zwar materiell und auch ideologisch voran, ihre nationale beziehungsweise imperiale Vereinnahmung blieb aber zwangsläufig Stückwerk.89 Für die umwelthistorische Forschung gilt daher in verstärktem Ausmaß, was auch für andere historische Forschung zutrifft: Der Nationalstaat ist und bleibt eine wichtige Untersuchungseinheit, sie genügt aber für viele Themen und Fragestellungen nicht.
Mit der Zurücksetzung des nationalstaatlichen Rahmens verbindet sich eine wesentliche Steigerung der Komplexität historischen Arbeitens. Zum einen ist für jede Untersuchung zu entscheiden, auf welcher räumlichen Ebene diese ansetzt und welche räumlichen Eingrenzungen vorzunehmen sind. Zum anderen sind diese Entscheidungen zu begründen hinsichtlich der Fragestellung, der Quellenlage und der Bearbeitungskapazitäten, aber selbstverständlich auch hinsichtlich der für die Beantwortung der Fragestellung relevanten historisch festmachbaren Raumbezüge. Dies bringt einerseits forschungspraktische Schwierigkeiten mit sich: So lässt sich im Vergleich zu Projekten nationalen Zuschnitts der Rahmen sehr viel schlechter abstecken, den eine Untersuchung möglicherweise annehmen wird, was den Forschungsprozess zugleich weniger kalkulierbar macht. Damit zusammenhängend stellen die historischen Überlieferungen neue Herausforderungen, da gerade die klassischen staatlichen Archivbestände überwiegend national organisiert sind. Anderen Spuren zu folgen kann sich rasch als aufwändig erweisen. Erfahrungsgemäß sind streng methodisch begründete Suchparameter oft wenig zielführend, während eine heuristische Suche, die nach plausiblen Verknüpfungen forscht, ergiebigere Resultate zeigt. Andererseits öffnet diese Neuausrichtung innovativen Historikerinnen und Historikern ein weites Praxisfeld. Den geänderten Bedürfnissen angemessene Forschungsstrategien zu entwickeln und entsprechende Forschungszusammenhänge zu etablieren, ist eine der vordringlichen Aufgaben nicht nur, aber auch der umwelthistorischen Forschung.
Von einem dynamischen und relationalen Raumverständnis geht auch das von der Umwelthistorikerin Verena Winiwarter und dem Umwelthistoriker Martin Schmid ausgearbeitete Konzept des sozionaturalen Schauplatzes aus, indem es diese Schauplätze durch sozionaturale Arrangements und Praktiken geformt und fortlaufend erneuert sieht. Sie sind historisch spezifisch und greifen räumlich und zeitlich aus: „socio-natural sites are spatially nested across scales and differ in duration.“90 Zugleich ist der sozionaturale Schauplatz ein Konstrukt der Forschung, das im Zuge der historischen Auseinandersetzung mit dem überlieferten Material entsteht. Somit hängt die Gestalt des Schauplatzes auch von den forschungsleitenden Interessen der oder des Forschenden ab.91
Wie aber ist eine umwelthistorische Untersuchung räumlich zuzuschneiden? In dieser Hinsicht gibt es, wie Richard White in einem weiterhin lesenswerten, 1999 erschienenen Aufsatz betont, nicht richtige und falsche, aber bessere und schlechtere Entscheidungen. Jede Skalierung einer Untersuchung bringt Vor-^^ und Nachteile: „Each scale reveals some things while masking others.“92 So bewirkte die Dominanz der nationalen Geschichtsschreibung, dass transnationale Dimensionen historischer Entwicklungen ausgeblendet wurden und tendenziell auch lokale und regionale Lebenswelten unterbelichtet blieben. Entscheidend ist zudem, dass sich historische Phänomene in aller Regel nicht lokalen, regionalen, nationalen oder globalen Skalen zuordnen lassen, sondern sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen Wirkung entfalten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Dabei kommt es zu Überschneidungen und Interaktionen und manchmal auch zu feststellbaren kausalen Beeinflussungen, die lediglich in einer Richtung wirken. Um diese Multiräumlichkeit konzeptionell auszuarbeiten, greift White ebenfalls auf Lefebvres Soziologie des Raums zurück und führt zur Illustration dessen Beispiel eines modernen Hauses und dessen Bewohner und Bewohnerinnen an, deren Leben sich zum einen vorwiegend lokal abspielt, zugleich aber über technische Infrastrukturen und andere Verbindungen in weite Räume hineinreicht. Im Anschluss an Lefebvre spricht sich White für ein dynamisches Verständnis von Raum aus und dafür, Räume nicht als segregiert, sondern als sich wechselseitig durchdringend zu verstehen, ohne damit aber in eine schwammige Heterogenität abzugleiten. Vielmehr gehe es darum, natürliche und soziale Räume in sich historisch wandelnde Beziehungen zu bringen.93 Denn auch was lokal, regional, national und global ist, ist historisch nicht stabil, sondern wird über historische Akteure und ihre Praktiken fortlaufend erneuert und zueinander in Beziehung gesetzt.94
Räumliche Beziehungen sind also nicht gegeben, sondern sie werden in sozionaturalen Prozessen etabliert oder aufgebrochen, stabilisiert oder destabilisiert. Zwischen Räumen unterschiedlicher Verfasstheit können sich Überlappungszonen ausbilden und über längere Zeit bestehen, ohne dass sich die Differenzen in ihnen aufheben. Dies galt etwa für Überlappungen zwischen urbanen und ländlichen oder zwischen kolonialen und indigenen Räumen.95 Für ungewöhnliche, „andere“ Räume führte der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault in den 1960er Jahren den Begriff der Heterotopie ein. Im Unterschied zu rein fiktionalen Utopien haben Heterotopien eine materielle Entsprechung in der realen Welt, deren Wirklichkeit sich aber radikal von derjenigen konventioneller Räume abhebt. Als Beispiele solcher heterotopen Räume nennt Foucault in seinen originellen, aber wenig systematischen Ausführungen das Freudenhaus, die Jesuitenkolonie und das Schiff. In diesen lokalisierbaren Räumen wird eine Differenz produziert, die sie zu Gegenorten des gesellschaftlichen Normalraums macht und in ein spannungsgeladenes Verhältnis zur dominanten Kultur und ihrer räumlichen Ordnung treten lässt.96 Dies trifft auch auf jene Naturräume zu, die in der Moderne von Kulturräumen scharf geschieden, zugleich aber in stetigem Kontakt mit der Kultur gehalten wurden. So ist der Nationalpark geradezu ein Musterbeispiel einer Heterotopie. In ihm ließ sich die Illusion pflegen, Natur nicht nur abseits der Kultur in ihrem „natürlichen“ Zustand zu erhalten, sondern auch anhand der Differenz zum Kulturraum die menschlichen Errungenschaften bemessen und bewerten zu können. In der räumlich umgesetzten, säuberlichen Trennung in Kultur und Natur offenbarte sich der Nationalpark als aktiver Träger und Gestalter der modernen dialektischen Natur-Kultur-Ordnung. Seine Geschichte bietet daher einen privilegierten Einblick in den modernen Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Natur und dessen räumliche Manifestationen.97
Um die Komplexität historischer Raumbeziehungen einzufangen, bietet es sich an, die räumliche Skala, auf der die Analyse angesetzt wird, zu variieren. Wenn kleinere Strukturen in größeren aufgelöst werden, wie dies die Nationalgeschichte, aber auch die Weltgeschichte in ihren synthetisierenden Darstellungen traditionell betrieben haben, geht ein Großteil der Komplexität der historischen Raumbeziehungen und damit der historischen Wirklichkeit verloren. Es ist symptomatisch, dass gerade in der Historischen Anthropologie alternative Vorgehensweisen ausgearbeitet wurden. So schlug der französische Historiker Jacques Revel ein Jeux d’échelles vor, ein Spiel mit Größenordnungen oder Maßstäben.98 Wichtige Inspirationsquelle waren die italienische Microstoria, aber auch Sigfried Kracauers posthum erschienenes Buch „Geschichte – Vor den letzten Dingen“, in dem er inspiriert vom Film für ein permanentes Wechseln der Einstellungen, von „close-ups“ und „long shots“, eintrat.99 Inzwischen liegen mehrere umwelthistorische Studien vor, die sich an multiskalaren Raumkonzeptionen orientieren und sie empirisch umzusetzen suchen. So hat Gregory T. Cushman eine Umweltgeschichte von Guano verfasst, die lokale und globale Entwicklungen beispielgebend verknüpft.100 Bernhard Gißibls Darstellung des deutschen kolonialen Naturschutzes wechselt zwischen deutschen und kolonialen, europäischen und afrikanischen Schauplätzen und Zusammenhängen.101 Ich selbst habe versucht, die Geschichte des Schweizerischen Nationalparks als eine transnationale Geschichte zu interpretieren und sie im Wechselspiel von globaler, nationaler und lokaler Skalierung darzustellen.102 Diese Studien zeichnet aus, dass sie die Analyse auf mehreren räumlichen Skalen anlegen und untersuchen, wie sich ihre Untersuchungsgegenstände auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen entfalten und wie diese Ebenen untereinander verknüpfen sind. Sie thematisieren auch, wie natürliche und gesellschaftliche Räume menschliches Denken und Handeln strukturierten und wie Denken und Handeln umgekehrt umwelthistorische Räume hervorbrachten.