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Raumbegriffe
ОглавлениеNeben dem Raumbegriff findet sich eine Vielzahl weiterer räumlicher Begriffe in der Forschungsliteratur. Eine Beschäftigung mit dieser ist unabdingbar, um die Begriffe selbst informiert und differenziert einsetzen zu können. Im Folgenden werden in Relation zum Raumbegriff die zentralen räumlichen Begriffe Ort, Landschaft und Territorium diskutiert und zwischendurch das Verhältnis von Raum und Zeit erörtert. Zunächst zum Ort: Die Unterscheidung von Raum und Ort ist inzwischen eine gebräuchliche, wenn sie auch nicht immer gleich gehandhabt wird. Meist geschieht sie in Anlehnung an oder zumindest mit Bezugnahme auf die englischsprachige Trennung in space und place. Mit Ort/place werden spezifische Lokalitäten bezeichnet, während Raum/space für die Strukturen, Ordnungen, Netzwerke verwendet wird, die aus der Distribution von Orten und auch von Menschen und Dingen hervorgehen, als, wie die Historikerinnen Iris Schröder und Sabine Höhler formulieren, „veränderliches Netz von Positionen und Relationen“.75
Die Unterscheidung von Raum und Ort ist heuristisch sinnvoll und analytisch ergiebig. Sie erlaubt der Historikerin und dem Historiker, sich konkreten Orten zuzuwenden und die Handlungen von Menschen zu rekonstruieren, die letztlich stets auf lokaler Ebene situiert sind; oder kurz: Geschichte zu lokalisieren. So haben sich bezeichnenderweise gerade die Wissenschaftsgeschichte und die Globalgeschichte in den letzten Jahren programmatisch dem Lokalen zugewandt. Im Zentrum stand die Frage nach den Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen dem Universellen beziehungsweise Globalen und dem Partikularen beziehungsweise Lokalen. Folglich blieben beide nicht im Lokalen stehen, sondern interessierten sich explizit für dessen universelle oder globale, auf jeden Fall translokale Verwobenheit – oder anders ausgedrückt: für dessen räumliche Verortung, für dessen Position und Relationen zu anderen Lokalitäten. Die Umweltgeschichte ging eher den umgekehrten Weg, startete im Lokalen, um sich zusehends dem Globalen zuzuwenden. Gute globale umwelthistorische Darstellungen blieben aber den lokalen Verhältnissen verbunden.76 In Anlehnung an die Naturwissenschaften bezeichnete John R. McNeill diese lokalen Anbindungen als „truth testing“, derer nicht nur die im globalen Maßstab betriebene Umweltgeschichte, sondern jede globale Geschichtsschreibung bedürfe.77 Ihr Interesse muss sich daher auf beides richten, auf historische Orte und historische Räume. Eine Untersuchung kann sowohl von einem Ort ausgehen als auch von einem Raum, sie darf aber weder das eine noch das andere als (vor-)gegeben verstehen, sondern kommt nicht umhin, Orte und Räume in ihrer Untersuchung zu konstruieren und sie somit zugleich zu historisieren.
Die Verwendung von Raum und Ort als Begriffspaar erlaubt zudem, Zeit als Gegenbegriff zu Raum zu konzipieren und die Veränderungen von Orten in Raum und Zeit zu beschreiben. Zum Verhältnis von Raum und Zeit hat Reinhard Koselleck festgehalten: „Jeder geschichtliche Raum konstituiert sich kraft der Zeit, mit der er durchmessen werden kann, wodurch er politisch oder ökonomisch beherrschbar wird.“78 In ähnlicher Weise postulierte der französische Soziologe Henri Lefebvre, aus dessen Werk Soja seinen Third Space ableitete, dass sich das Wesen eines Raums nur über seine Geschichte erhellen lasse. Lefebvre sprach daher von Räumen als Œuvres, als Werke, deren Genese und Sinngebung es zu rekonstruieren gelte, um zu ihrem Wesen beziehungsweise ihrer Natur vorzustoßen. So führte er in seinem 1974 erschienenen Buch „La production de l’espace“ aus: „Es ist nie einfach vom Objekt (Produkt oder Werk) auf die (produktive und oder kreative) Aktivität zurückzuschließen. Doch nur diese Vorgehensweise erlaubt, das Wesen (nature) des Objekts zu erhellen, oder, wenn man so will, die Beziehung des Objekts zur Natur, indem der Prozess seiner Genese und seiner Sinngebung rekonstruiert wird.“79 Damit entwarf Lefebvre ein genuin (umwelt-)historisches Programm. Einen verwandten Zugang wählten in den 1970er und 1980er Jahren, und damit vor der Deklamation des spatial turn, kulturhistorische Arbeiten, die sich mit der Frage befassten, wie die technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts sich auf das Raum-^^ und Zeitempfinden der Zeitgenossen auswirkten. Telegraf und Telefon, Eisenbahn und Dampfschiff ließen die Welt damals zusammenrücken. Nachrichten aus fernen Ländern, deren Übermittlung zuvor Wochen gebraucht hatte, erreichten die Empfänger nun fast in Echtzeit, und Orte, die bislang mehrere Tagesreisen entfernt lagen, waren nun in Stunden erreichbar. Zeit und Raum zugleich schienen zu schrumpfen.80
Eine interessante Variante zum Raumbegriff bildet der Begriff der Landschaft. Landschaft ist unmittelbarer und sinnlicher als Raum. Landschaft weckt Bilder, sie lässt sich imaginieren. Raum ist abstrakt, eine leere Worthülse, die erst mit Bedeutung gefüllt werden muss. Ein Selbstversuch wird dies sofort bestätigen. Man braucht nur zu fragen, welche Assoziationen beim Wort Landschaft und welche beim Wort Raum auftauchen. Einen Raum müssen wir uns aneignen, eine Landschaft nicht: Sie ist bereits angeeignet. Diese besonderen Qualitäten des Landschaftsbegriffs haben zweifellos zu dessen Verbreitung und Popularität beigetragen. In den Wissenschaften ist der Landschaftsbegriff insbesondere in der Geografie sehr präsent, ist aber auch von der Soziologie und der Kunstgeschichte aufgegriffen worden und selbstverständlich in die Raumplanung eingeflossen.81 Seine Verwendung bietet sich insbesondere dann an, wenn die soziale Konstruktion des Raums betont wird, wenn die sinnlichen und emotionalen Dimensionen eine Rolle spielen und wenn nach der Beziehung von Raum und Identität gefragt wird oder wenn die Alltagsbezüge stark sind.82 Auch lässt sich Landschaft als Ensemble von Räumen und Orten konzipieren. Sofern der Landschaftsbegriff auch in den Quellen auftaucht, muss darauf geachtet werden, die analytische Begriffsverwendung von der Verwendung in den Quellen zu trennen – dies gilt selbstverständlich für alle Raumbegriffe.
Der Begriff des Territoriums ist der treffende im Zusammenhang mit staatlichen Reglementierungen von Raum. In ihrer wegweisenden Untersuchung zu den Raumordnungsbemühungen des frühen schweizerischen Bundesstaats im 19. Jahrhundert sprechen die Historiker David Gugerli und Daniel Speich diesbezüglich von den „Topografien der Nation“. Sie untersuchen, wie Politik, Kartografie und Landschaft in Beziehung gesetzt wurden und wie sich diese Beziehung in einer Triangulation von Macht, Wissen und Raum in der gesellschaftlichen Ordnung niederschlug.83 In einem viel beachteten Essay hat der amerikanische Historiker Charles S. Maier diesen auf nationalstaatlicher Ebene ansetzenden Prozess mit jenem der Globalisierung in Verbindung gebracht und die Zeit von 1860 bis 1970 als eine Epoche der weltweiten Territorialisierung charakterisiert.84 In ähnlicher Weise, aber ohne auf Maier Bezug zu nehmen, konzipierte der Geograf Benno Werlen in Anlehnung an Anthony Giddens drei idealtypische Konstellationen der gesellschaftlichen Raumverhältnisse: eine prämoderne Konstellation, deren zeitliche und räumliche Verankerung auf lokal herrschenden Traditionen beruhte, eine moderne Konstellation, die sich „durch die rationale räumlich-zeitliche Territorialisierung der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ auszeichnete, und eine spätmoderne, in der sich die modernen Organisationsformen auflösen und die gesellschaftlichen Tätigkeitsfelder zeitlich und räumlich „entankert“ werden.85
In der europäischen Geschichte können Territorialisierungsprozesse auch in vormodernen Epochen beobachtet werden. Die Ausgestaltung des modernen Staats seit dem 18. Jahrhundert kann jedoch als eine neue und anhaltende Phase der Territorialisierung gesehen werden, die sich im 19. Jahrhundert unter europäisch-imperialistischen Vorzeichen globalisierte. Inwieweit diese Phase um 1970 endete und einer neuen Phase der De-^^ oder Ent-Territorialisierung Platz machte, wie dies Werlen und Maier beobachten, und ob es sich dabei um einen Bruch mit oder eine Neukonfiguration der Moderne handelt, ist Gegenstand laufender Diskussionen. Für die Umwelt hatten Territorialisierungsprozesse zumeist einschneidende Konsequenzen, indem sie den staatlichen Zugriff auf natürliche Ressourcen stärkten oder auch erst ermöglichten.86 Aber auch der gegenteilige Prozess der Ent-Territorialiserung konnte fatale Folgen für die Umwelt haben, wenn dadurch die staatliche Regulierung wegfiel und einer ungehemmten auf privaten Profit ausgerichteten Ausbeutung Platz machte. Dasselbe konnte passieren, wenn eine Territorialisierung ausblieb. Die Prozesse der Territorialisierung und der Ressourcennutzung stehen also in einem ambivalenten Verhältnis, das historisch unterschiedlichste Ausprägungen gefunden hat.