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Dynamik und Veränderbarkeit von Natur und Umwelt

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In herkömmlichen historischen Darstellungen kommen Natur und Umwelt kaum vor. Wenn sie überhaupt Eingang in die Erzählung finden, dann meist als landschaftliche Kulisse, vor der sich das eigentliche Geschehen abspielt, oder allenfalls als Begleitumstand, der das Handeln der historischen Akteure rahmt. Nur selten üben sie einen bestimmenden Einfluss aus und dann zumeist aufgrund spezifischer Eigenheiten: etwa des morastigen Bodens oder der dichten Vegetation, der Steilheit des Terrains oder der Untiefen des Gewässers. Doch selbst in dieser letzten Variante einer fortgeschrittenen Einbeziehung von Umwelt in die Narration bleibt die Natur passiv. Sie bildet lediglich die Bühne, auf der die Geschichte zur Aufführung gelangt, auf der sich die menschlichen Schicksale ereignen und Staaten oder Zivilisationen entstehen oder untergehen. Dies ist noch die Sichtweise bei Fernand Braudel, dem das Verdienst zukommt, die Umwelt als maßgebenden Faktor in die Geschichtswis-senschaften eingeführt zu haben. Den ersten Band seiner dreibändigen Geschichte des Mittelmeers widmet er Betrachtungen zur Umweltgeschichte, die er als geohistoire bezeichnet und die für ihn die unterste Schicht, eine histoire quasi immobile, bildet, auf der sich die menschlichen und gesellschaftlichen Schicksale entfalten.25 Sichtweisen auf die Geschichte, welche die Umwelt ausblenden oder nur als quasi unveränderlichen Rahmen menschlicher Aktivitäten wahrnehmen, sind nicht nur auf dem einen Auge blind, sondern sie übersehen gerade einen sehr wesentlichen Aspekt, den es für den Zusammenhang von Umwelt und Gesellschaft und dessen historischen Wandel unbedingt zu beachten gilt: die Dynamik und Veränderbarkeit von Natur und Umwelt.

Die Umweltgeschichte versucht den Wandel von Gesellschaften in der Interaktion mit ökologischen Bedingungen zu begreifen, Bedingungen, die sich selbst fortlaufend ändern, die teilweise periodischen Zyklen, etwa saisonalen oder mehrjährigen Mustern folgen, teilweise in regelhaften bis chaotischen Prozessen unterschiedlichster Geschwindigkeit und Dauer ablaufen, etwa unter dem Einfluss klimatischer Schwankungen. Historische Gesellschaften versuchten nicht nur, sich diesen wandelnden ökologischen Bedingungen anzupassen, sondern sie auch zu ihren eigenen Gunsten zu beeinflussen. Ihr Augenmerk galt gerade und insbesondere den Dynamiken der Natur, die sie zum einen zu nutzen suchten und vor denen sie sich zum anderen schützen mussten. Für das Fortkommen dieser Gesellschaften war es lebenswichtig, die natürlichen Dynamiken verstehen zu lernen, sie berechenbar und damit auch vorhersehbar zu machen, ihren Auftritt regelhafter und regelmäßiger zu gestalten und die Entfaltung der Dynamiken im eigenen Sinne zu beeinflussen. Dies kann als ein soziales Lernen verstanden werden, das eine fortdauernde Amalgamierung gesellschaftlicher und natürlicher Prozesse mit sich brachte. Das Ziel dieses Lernens, das Gesellschaften mitunter auch erreichten, kann in einer gesellschaftlichen Stabilisierung natürlicher Dynamiken gesehen werden.26 Da die natürlichen und sozialen Dynamiken fortwirkten, blieben solche sozionaturalen Stabilisierungen stets temporär.

Damit verschiebt sich der historische Blick auf Umwelt und Gesellschaft grundlegend: Wir haben nicht mehr eine bühnenhafte, quasi unveränderliche, passive Natur, sondern eine aktive, dynamische Natur, die historisch zur Umwelt vergesellschaftet wird und die sich im Prozess dieser Vergesellschaftung stabilisiert. Die Stabilisierungen bleiben allerdings prekär. Sowohl gesellschaftliche Umwälzungen als auch natürliche Dynamiken, einzeln oder in ihrem Zusammenkommen, und nicht zuletzt auch Prozesse, die gesellschaftliche Akteure absichtlich oder unabsichtlich durch ihre Interaktionen mit der Natur, in Gang setzen, können die sozionaturalen Verhältnisse, wie sie an einem Ort und zu einer Zeit vorherrschen, destabilisieren. Diesen Befund einer historisch gewachsenen Verwobenheit kultureller und natürlicher Elemente zu akzeptieren hat für die historische Praxis weitreichende Konsequenzen: Nimmt man ihn ernst, so kann es nicht darum gehen, bisherige Darstellungen lediglich um den Aspekt der Umwelt zu ergänzen, ihnen ein Kapitel zur Umweltgeschichte anzufügen. Vielmehr muss in sämtliche Schilderungen eine umwelthistorische Betrachtung eingezogen werden, was zwangsläufig zu einer, zumindest in Teilen, neuen und anderen Erzählung führen wird.27 Natur und Mensch, Umwelt und Gesellschaft als aktiv und veränderlich zu verstehen und gesellschaftliches Handeln auf gesellschaftliche und natürliche Dynamiken zu beziehen, mit dieser Sichtweise lassen sich unterschiedliche Bereiche einer fruchtbaren umwelthistorischen Interpretation zuführen, von der Herausbildung von Landnutzungssystemen über die Anlage von Siedlungen und Städten bis zur Kolonialgeschichte.28

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