Читать книгу Almas Rom - Patrizia Parolini - Страница 11
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Gavignano war ein Kaff. Alma hasste den Ort. Diese Handvoll dicht aneinander, in die Höhe gebauter steinerner Häuser auf dem steil abfallenden felsigen Hügel. Zuoberst stand der stolze Turm des Baronspalastes, der alles überragte, weiter unten der weissgetünchte Turm der Pfarrkirche, noch weiter unten eine weitere Kirche am Fuss einer langen, steilen Freitreppe. Brunnen gab es keine, fliessendes Wasser schon gar nicht, nur sogenannte pozzi – Tonnen aus Blech oder Holz zum Auffangen des Regenwassers. Das Trinkwasser musste unten in der Ebene geholt werden. Die kräftigsten Frauen des Dorfes trugen es in verzinnten Kupferkrügen, die sie auf dem Kopf balancierten, den weiten Weg ins Dorf hinauf. Almas Geschwistern gefiel es in der Ciociaria, diesem ärmlichsten Provinznest südlich von Rom, in das die Eltern sie zur Hochsommerzeit mit Nazzarena, der Gouvernante, schickten. Dann, wenn in der Stadt die canicola – die Hundstage – herrschten, und man sich nur morgens und abends aus den tagsüber abgedunkelten Wohnungen hinauswagte.
Alma hingegen sehnte vom ersten Tag an den letzten herbei. Da halfen auch die Bücher, die sie hatte mitnehmen dürfen, und die Comics der Kleinen, die sie aus lauter Langeweile bereits mehrmals gelesen hatte, wenig.
Wenn zumindest sie nicht mehr hätte hierherreisen müssen! Doch mit Vater war nicht zu reden gewesen. Heftig rückte Alma den Stuhl vom Esstisch weg. Sie war aufgeregt, wenn sie daran dachte, dass sie in wenigen Tagen endlich nach Hause fahren würden. Die verstörende Beklemmung der letzten Wochen wich einer leisen Zuversicht, ja beinahe Heiterkeit. Sie wischte die Brotkrümel von ihrer weissen Bluse und dem knöchellangen braunen Arbeitsrock und zwang eine Strähne ihrer dunkelbraunen Haare, die sie zu einem Knoten zusammengebunden trug, in eine Haarspange. Dann packte sie den Stapel leergegessener Teller und stürzte damit aus dem Wohnzimmer in den Flur, als könnte sie, wenn sie sich nur genügend schnell bewegte, die Zeitspanne bis zur Rückfahrt verringern, und prallte unversehens mit Romeo zusammen, der mit der Früchteschale in den Händen aus der Küche kam. Ein schriller Schrei entfuhr ihr. Sie sah den Schreck in Romeos schräg stehenden, dunkelbraunen Augen. Dann klirrte und klapperte es. Teller zerbrachen auf den Steinplatten, Besteck tanzte über Scherben und Boden. Hunde bellten, Stimmen schwollen an im Wohnzimmer.
«Mannaggia, was ist los?», hörte sie Nazzarenas alten Vater poltern. «Bringt das sofort in Ordnung!»
Alma sah Irenes dunkelblonden Schopf im Türrahmen, ihr unterdrücktes Grinsen.
«Holt den Besen!» Nazzarenas Mutter, eine kleine, verbrauchte Frau, stieg unverzagt über die Scherben hinweg. «Raus mit euch, bringt ja nicht eure Flöhe in unser Haus!», verscheuchte sie die neugierigen Nachbarskinder, die von der engen, steilen Gasse her zur offenen Eingangstür hereinguckten.
Nazzarena eilte mit dem Besen herbei, ihre jüngere Schwester schickte die Kleinen energisch zurück an den Tisch.
«Ihr seid ja unruhig heute!», schimpfte Nazzarena und schaute Alma vorwurfsvoll an. Diese stand bestürzt da und hielt unbeholfen die wenigen verbliebenen Teller vor sich hin.
«Geh, Romeo!» Nazzarena schubste den Jungen vorwärts.
Alma beobachtete, wie Romeo einen Fuss nach dem anderen über die hölzerne Türschwelle hob, die Früchteschale umklammerte, vorsichtig darauf bedacht, nicht zu stolpern. Dieser krumme Körper. Sie waren im selben Jahr auf die Welt gekommen. 1894. Sie im Januar, er im Dezember.
«Hast du gehört, was ich gesagt habe?» Nazzarenas Stimme schwankte zwischen Ärger und Mitleid.
Alma löste sich aus ihrer Starre und schüttelte den Kopf.
«Trag die Teller in die Küche und bring mir den Putzlappen!»
Alma stotterte leise eine Entschuldigung und verschwand in die Küche. Nazzarenas Schwester klaubte Tellerstück um Tellerstück und Gabeln und Messer vom Boden auf, Nazzarena wischte den Rest zusammen.
Alma stellte die Teller ab. Sie musste sich setzen. Ihre Beine zitterten. Sie sah sich und Romeo, als sie noch klein waren, wie sie beide, ein Herz und eine Seele, mit ihren Stoffpuppen spielten, auf dem hölzernen Schaukelpferd wild hin- und herwippten oder mit einem Tuch um die Schultern als Verkleidung durch die Wohnung rannten, über die Treppe hinunter in den forno, durch die Bar und den Innenhof. Jemand hatte immer mitgespielt. Der Buchhalter, einer der Bäcker oder der Kellner hatte den Unbeholfenen gemimt und war ihnen hinterhergetapst. Und sie, aufgeregt kichernd, hatten sich auf und davon gemacht. Alma lächelte unwillkürlich.
Auch auf die Dachterrasse ihres Wohnblocks hatten sie sich geschlichen, in den sechsten Stock hinauf, obwohl es ihnen strengstens verboten war. Und immer noch haute Romeo gern ab. Meistens besuchte er den Pferdefuhrhalter an der Porta San Giovanni, jenseits der Aurelianischen Mauern. Wie strahlte er dann vor Stolz, wenn man ihn mit der Kutsche nach Hause zurückfuhr!
Nur vage konnte sich Alma an den Tag erinnern, als man Romeo notfallmässig ins Spital gebracht hatte. Mutter, die sonst nicht aus der Ruhe zu bringen war, hatte wie eine Furie reagiert und niemanden ins Zimmer gelassen. Der Bruder hatte mit hohem Fieber im Bett gelegen, unter Halluzinationen und Krämpfen gelitten, geweint und geweint und bei jeder Berührung aufgeschrien. Bis man ihn geholt hatte. Und dann, aus dem Spital, hatten sie die Diagnose bekommen: Meningitis. Alma hatte sich darunter nichts vorstellen können. Aber Romeo war von da an nicht mehr derselbe gewesen. Er war kaum mehr gewachsen und hatte sich nur noch langsam entwickelt. Obwohl beinahe siebzehn Jahre alt, hatte er den Körper eines Kindes und war nicht grösser als der elfjährige Attilio. In der Sonderschule an der Piazza Pepe hatte er ein bisschen Lesen und Schreiben gelernt.
Wieder Nazzarenas Stimme. Alma tat einen tiefen Seufzer, stand auf, nahm den Putzlappen und brachte ihn Nazzarena. Dann machte sie sich ans Abwaschen. Sie goss das verbliebene Wasser, das im Kessel auf dem Holzherd dampfte, in das Waschbecken. Irene, Nazzarena und ihre Schwester halfen mit, die Küche aufzuräumen. Folco fütterte die Katzen. Später schaute Alma zu, wie die Buben und Nazzarenas Brüder die störrischen Ziegen, die sie vom Feld ins Dorf geholt hatten, die enge, steil abfallende Gasse zwischen ihrem und dem Nachbarshaus hinuntertrieben. Zusammen mit den beiden Eseln wurden sie in den Stall gebracht, der sich ein Stockwerk unter dem Wohnzimmer befand. Nazzarenas Familie lebte kärglich von den Tieren, etwas Getreide- und Gemüseanbau und dem Lohn ihrer Brüder, die in Weinbergen und Olivenhainen arbeiteten. Die Schwestern, die nicht in die Stadt gezogen waren, verrichteten Ammendienste, solange sie konnten, und verarbeiteten, Abend für Abend, Stroh, Seide und Wolle. Nazzarenas Mutter schloss die Gehege der Hühner und Gänse. Darüber breiteten sich die Äste des Wacholderstrauchs aus, der sich gegen den dunkelblau leuchtenden Himmel abhob wie ein klappriges, dorniges Gerippe.
Auf den umliegenden Hügeln hockten wie Kappen andere kleine Dörfer. Der Klang der Kirchenglocken breitete sich über die Campagna aus. Der Ruf zum Angelus Domini.
Bevor sie ins Bett geschickt wurden, durften die Kinder im Wohnzimmer noch etwas spielen. Alma und Romeo sassen am Tisch und setzten das abgewetzte Puzzle mit den Pferden zusammen. Am Hauseingang waren die Silhouetten von Nazzarenas Vater und Brüder erkennbar. Sie rauchten Pfeife, ihre Hände waren wie Pranken.
Alma sehnte sich nach Rom. Sie vermisste ihre Freundinnen und war froh, dass der September angebrochen war. Es war höchste Zeit zurückzukehren.
Romeo suchte eifrig nach Puzzleteilen. Alma spürte, dass er glücklich war. Hier in Gavignano tollte er stundenlang mit dem Hund von Nazzarenas Vater herum. Mit den anderen Kindern zog er umher, besuchte die Esel oder Ziegen auf den Weiden, rannte fasziniert den Hühnern und Schmetterlingen nach. Hier passierte es nie, dass er ganz still wurde und in sich versank wie zu Hause, wenn seine Brüder von ihren Erlebnissen in der Schule erzählten und jeder versuchte, lauter und origineller zu sein als der andere. Wenn Traurigkeit in seinen Augen aufflackerte und Alma seinen Schmerz darüber erahnte, dass er anders war, dass für ihn vieles nicht möglich war. Das waren die Momente, in denen sie wusste: Jetzt brauchte er ein Zeichen, dass er dazugehörte, die Gewissheit, dass sie da war. Nur für ihn.