Читать книгу Almas Rom - Patrizia Parolini - Страница 8
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Nervös strich sich Cristoforo mit der mageren Hand über den Schnurrbart und zwirbelte ihn nach oben. Er eilte voraus, um am Largo Brancaccio nach einer freien Kutsche Ausschau zu halten. Alma und Pietro, der fünfjährige Bruder mit den pechschwarzen Locken, hielten mit ihm Schritt. Der Vater schaute seine Tochter an. Sie war mittlerweile fast so gross wie er. Angst, dass ihm nur noch wenig Zeit verbleiben könnte, regte sich in ihm. Fahrig zeigte er auf die Ankündigung der Einweihungsfeier an der Plakatsäule und erklärte, mit dem Bau des Vittoriano habe man begonnen, kurz nachdem er in Rom angekommen sei. Damals habe er in der Nähe gewohnt, und ja, den Kapitolshügel habe er noch gesehen, bevor man ihn abzutragen begann. Das sei auch die Zeit gewesen, als man die Piazza in ihrem Quartier erstellt habe, die Parkanlage, ebenfalls zu Ehren des verstorbenen Königs.
«Ah!» Alma nickte.
Vater sprach von einer Vergangenheit, für die sie keine Bilder hatte. Ihr Quartier, das war die Peripherie Roms. Dort, wo all ihre Freundinnen lebten. Die meisten waren Töchter von Landsleuten ihrer Eltern. Von Zugezogenen. Aber Herkunft hin oder her: Sie war Römerin, und die Stadt war ihr Zuhause. Hier würde sie eine Liebe finden, heiraten und Kinder haben. Keines würde früh sterben müssen, weil es für sie alle nur die beste medizinische Versorgung geben würde. Sie würde ins Kino gehen und in den grandi magazzini Kleider kaufen. In der Stube ihrer Wohnung würde ein Grammophon Musik abspielen, und sie würde Fahrrad fahren. Und wenn sie dann einmal ganz alt sein und sterben würde, sollten ihre Kinder sie auf dem Campo Verano begraben.
Zia Ludovica, Vaters ältere Schwester, und Anna, die Mutter, hatten sie eingeholt. Die Tante hielt keuchend an und strich sich weisse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Giacomo schmiegte sich an die Mutter. Wie immer. Mammà, dachte Alma, ist das Gegenteil von Vater. Ein kleiner, fülliger Körper und energische Hände, ein schönes rundliches Gesicht. Vater und Mutter kamen aus der Schweiz, aus dem südöstlichsten Zipfel des Landes, der an Italien grenzte. Das winzige Dorf, steile Berge und der ewige Schnee auf den höchsten Gipfeln tauchten in ihrer Erinnerung auf.
Sie war ein einziges Mal dort gewesen. Im Sommer 1900, als Attilio auf die Welt gekommen war. Sie sah das ärmliche Haus der Grosseltern am Fuss des Berges und die Tiere. Sie hatte sich vor den Kühen gefürchtet, aber sie spürte noch, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie die Schafe hatte streicheln dürfen. Deren Wollkringel waren nicht weich gewesen, sondern rau und fest.
Sie zuckte zusammen und packte Pietro an der Hand. Vor ihr schrien und winkten Attilio und Irene aufgeregt einem herannahenden Kutscher zu. Pietro riss sich von ihrer Hand los, und Folco, der in der Hocke Kieselsteinchen vom Boden aufgelesen hatte, sprang auf. Vater hob beide in die Kutsche, drückte Anna einen Geldschein in die Hand, sagte: «Ciao, bambini!» und wandte sich hastig ab. Er musste zurück an die Arbeit.
Zia Ludovica nahm Folco, den Jüngsten, auf ihren Schoss, Mutter Pietro, den Zweitjüngsten. Die anderen Kinder kletterten ebenfalls in die Kutsche. Als Letzter, wie immer, und mit der Hilfe von Alma, Romeo. Der sechzehnjährige Bruder, der versehrte Junge im Kind gebliebenen Körper.
Sie sassen zusammengepfercht und schwitzten. Zum Glück hatte sich die Sonne hinter weissen Schleierwolken versteckt. Er Ponentino – die frische Brise vom Tyrrhenischen Meer her – wehte wohltuend durch die Strassen. Pietro beugte sich zu Folco hinüber und stupste ihn.
«Bleibt ruhig, Kinder, sonst wird mir schlecht!» Mutter zog Pietro zurück und warf Folco einen warnenden Blick zu.
Sie ratterten durch die Via Nazionale, den hohen, stattlichen Palazzi entlang, vorbei an flanierenden Fussgängern und durch das Durcheinander der Kutschen hindurch, die in alle Richtungen fuhren. Kurz vor der Piazza delle Terme liess der Kutscher die Pferde nach links in die Via Torino abbiegen. Das Gewicht der Familie hinauf zur Via XX Settembre zu ziehen, machte den Tieren zu schaffen. Vom Fontanone dell’Acqua Felice her streifte sie ein kühler Lufthauch. Dann bogen sie nochmals links ab und stiegen in der Via di Porta Salaria aus. Die Grande Gelateria Elettrica Siciliana di Giovanni Fassi war die modernste Konditorei und die beste Eisdiele der Stadt. Sie erreichten die grosse, laute Menschenmenge, die drängelnd vor dem Eingang stand. Missmutig stellte sich Alma mit den anderen zuhinterst an.
«Mammà, ich will Eis!» Auch dem dreieinhalbjährigen Folco war die Warterei verleidet.
«Es wird dir schmecken.» Mutter lächelte und strich Folco über die Wange.
«Du hast ja keine Ahnung, was es gibt!», spöttelte Irene, die vier Jahre ältere Schwester.
«Do-och! Fata bianca!»
«Und was ist das?»
«Eis!»
«Macché! Die fata bianca ist eine Fee. Die rutscht in deinen Bauch hinunter und verzaubert dich.» Sie bohrte den Zeigefinger in Folcos Bauch.
Dieser schaute mit grossen Augen an sich hinunter. «Aber ich will Eis!» Er packte ihren Finger.
«Und wenn du verzaubert bist, kannst du fliegen.»
«Ich komme mit ins Zauberland», warf Pietro eifrig ein. «Dann fliegen wir zu Pupi und Drago!» Er ruderte heftig mit den Armen.
«Jaa!» Folco und Giacomo lachten aufgeregt.
«So ein Blödsinn», kommentierte Attilio trocken die Begeisterung seiner jüngeren Geschwister.
«Beh, pass du bloss auf! Wenn du Drago nicht magst, dann holt er dich!» Irene packte Attilio an den Schultern und fauchte ihn an.
« Hör auf! » Bevor sich Attilio ihrem Griff entwinden konnte, stürzten sich Pietro und Folco auf ihn. Er rannte davon, um sie loszuwerden, die anderen drei hinter ihm her.
Die Mutter schaute Alma an: «Gehst du?»
Alma verzog das Gesicht und eilte widerwillig den Geschwistern nach. In Richtung Porta Salaria. Als sie zurückkehrten, stand Mutter mit Giacomo, zia Ludovica und Romeo im halbdunklen Innern des Lokals. Die Kleinen stellten sich vor den Glaskasten, der sie magisch anzog, und starrten mit glänzenden Augen in die aneinandergereihten Kübel mit den bunten Eissorten. Als die Kinder endlich die Waffel mit der schneeweissen, flaumigen Eiscreme in die Hand gedrückt bekamen, machten sie sich gierig über das zauberhafte dolce her. Innert weniger Augenblicke waren Münder und Hände verschmiert und Hosen und Jacken verkleckst.
Später, nachdem sie die Hände an einem nahegelegenen Brunnen gewaschen hatten, bummelten sie die Hauptstrasse entlang und fuhren dann mit der elektrischen Tramway zur Piazza Santa Maria Maggiore. Auf dem von neu gepflanzten Platanen gesäumten Strassenstück bis zum Häuserblock, in dem sie wohnten, gingen sie zu Fuss.
Schon bald tauchte Vaters Geschäft auf. Der Eingang befand sich in der Spitze des Winkels, dort, wo die Via Mecenate in die Via Merulana mündete. «Bar e liquoreria» stand darüber in goldgelben Buchstaben auf einem schwarzen Schild. Neben der Tür prangte eine Tafel mit dem weissen schwungvollen Schriftzug «Coca Cola» auf rotem Hintergrund. Ein brandneues kaffeebraunes Getränk, das, so hiess es, aufputsche und Kopfschmerzen lindere. Daneben die Werbung für Fernet-Branca mit dem Bild eines Adlers über einer Erdkugel, das Alma schon als kleines Mädchen fasziniert hatte. Der forno e drogheria – die Bäckerei mit dem Laden – befand sich rechts davon in der Via Mecenate, die Bar und das Eingangsportal zu ihrem Wohnblock links in der Via Merulana.
Übermütig stiegen sie die Treppen hinauf und traten, durch die mittlere der drei Wohnungstüren, direkt in die Küche ein. Nazzarena, die Gouvernante, stand am Kochherd. Die schwarzen Röcke unter der weissen, spitzenbesetzten Schürze standen von ihren Hüften ab wie eine grosse Glocke. Ihr gutmütiges Gesicht war umrahmt von dichtem, pechschwarzem Haar, das in einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden war. Nazzarena klatschte die Hände zusammen und starrte die Flecken auf den Sonntagskleidern der Kinder an: «Mamma mia!»
Alma sah, wie sie mit sich rang und nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Bis Folco die Arme nach ihr ausstreckte, Nazzarena ihn auf den Arm nahm und die anderen Kinder, lachend und schimpfend zugleich, ins Badezimmer dirigierte. Derweil erzählten ihr diese schwärmend von den Zauberkünsten der fata bianca und der Fahrt mit der Tramway.
Alma verschwand unbemerkt in ihr Zimmer.