Читать книгу Almas Rom - Patrizia Parolini - Страница 16
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Ratsch! Mit Schwung zog Nazzarena die schweren olivgrünen Vorhänge zurück.
Alma, auf dem Weg zum Badezimmer, sah, wie ihre Füsse den Kontakt zum Boden verloren, als sie sich über das Fensterbrett beugte, um die Fensterläden aufzustossen. Tageslicht drang in das grosse, hohe Zimmer mit der dunkelgrünen Tapete. Die Buben räkelten sich in ihren Betten. Romeo zog sich das Bettlaken über den Kopf, Attilio sass auf der Bettkante und liess die Beine baumeln, Giacomo entwischte der Gouvernante und rannte barfuss an Alma vorbei und über den Flur ins Elternzimmer, wo er zur Mutter ins Bett schlüpfte. Der kleine Folco schlich hinüber zu Pietro, der beim eindringenden Morgenlicht den Kopf ins Kissen gesteckt hatte und nicht aufstehen mochte. Folco riss ihm das Bettlaken weg. Pietro schoss auf wie eine Rakete. Nazzarena packte die beiden und setzte sie nacheinander auf den Nachttopf.
Alma wandte sich ab und verschwand im Badezimmer. Irene folgte ihr. Beide waren bereits angezogen. Seit Alma im Jahr davor ihre erste Blutung gehabt hatte, machte Irene ihr alles nach. Morgens riegelte auch sie das Badezimmer ab, band ihr Haar nicht im Nacken, sondern ebenfalls, wie es Mode war, hoch auf dem Kopf zusammen und benutzte Almas Parfum.
«Gebt Babbo einen Gutenmorgenkuss und setzt euch!», befahl Nazzarena den Kleinen, die gespannt darauf warteten, dass der Vater das Brotbündel öffnete. Ohimè, keine maritozzi! Alma setzte sich schweigend an den Frühstückstisch. Pietro und Folco gaben einen Hustenanfall vor, als ihnen die Duftwolke ihrer Schwestern in die Nase stieg, und ernteten damit böse Blicke. Die Mutter, etwas schläfrig, zog den noch gähnenden Giacomo hinter sich her, rief Romeo, der noch immer im Bett lag, und Attilio, der rasch sein Buch im Nachttisch verstaute. Sie beteten und begannen zu frühstücken. Gleissende Sonnenstrahlen erfüllten das Esszimmer.
Später, als Vater bereits wieder im Laden stand und Nazzarena und Irene schwatzend den Tisch abräumten, half Alma der Mutter, die Kleinen anzuziehen. Sie war schlecht gelaunt und wollte gehen. Aber ausgerechnet an diesem Tag reichten die üblichen Ermahnungen nicht aus, und je mehr sie drängte, desto mehr stellten sich die Buben quer. Sie verlor die Geduld und kniff sie gehörig in den Arm. Almas pizzicotti hassten die Buben, weil sie blaue Flecken davontrugen, die tagelang schmerzten. Sie schrien auf, und Alma verliess entnervt das Schlafzimmer und eilte, bevor Mutter auf die Idee kam, sie mit den Kindern zum Spielen nach draussen zu schicken, zur Wohnungstür, die Treppen hinunter und auf die lichtdurchflutete Via Merulana hinaus. Frischer Wind wehte ihr entgegen: Er Ponentino reinigte die Stadt von schlechten Gerüchen.
Sor Augusto, der alte Zeitungsverkäufer, spannte gerade mit schwerem Atem den grauen Sonnenschirm über seinen Zeitungsstand auf. «Oho, so in Eile, Signorina! Zu wem geht’s denn so geschwind?» Er hielt inne und guckte ihr nach.
Was geht dich das an, du Klatschmaul, dachte Alma gereizt und eilte grusslos weiter. Um sich gleich ihren unhöflichen Gedanken vorzuwerfen. Die Nonnen, bei denen sie zur Schule gegangen war, würden sagen, dass man das beichten müsse. Alma hatte sich immer gefragt, ob denn die Nonnen auch beichteten, wenn sie sich wieder einmal in einer ihrer Schimpftiraden ergangen hatten.
Rachele, Almas Freundin, war eine selbstbewusste junge Frau. Ihrem Vater gehörte die Bar Michelangelo an der Via Buonarroti. Auch diese Bar war, wie Vaters Geschäft, ein Treffpunkt von Landsleuten. Rachele prahlte gern damit, dass sie in der Strasse mit dem berühmten Namen wohnte.
Alma spottete nur darüber, denn diese Seitenstrasse, die zur Piazza hinaufführte, war für sie nichts als kurz und hässlich. Und sie nahm Rachele hoch, weil sie noch nie auf der Peterskuppel, Michelangelos Meisterwerk, gewesen war. Während Alma in die Via Buonarroti einbog, sah sie sich die Wendeltreppe zum Dach des Petersdoms hinaufsteigen, weiter zum Kranz der Laterne und von dort oben, mit noch fliegendem Atem, den Blick über den Petersplatz und die Stadt schweifen lassen, über die Campagna bis zu den Albaner Bergen. Einmal, als das Wetter besonders klar gewesen war, hatte sie sogar das Meer sehen können. Sie war überwältigt gewesen von der Weite und dem Gefühl der Freiheit!
Die Erinnerung an dieses Glück über den Dächern von Rom beruhigte sie, und so stieg sie etwas weniger hastig die Treppen hinauf. Vor der Wohnung zog sie erwartungsvoll an der Klingel, das Dienstmädchen öffnete, und sie trat ein.
Rachele mit ihren rosaroten Pausbacken eilte freudestrahlend herbei, legte die frisch gebügelten Leintücher auf einen Stuhl und umarmte Alma überschwänglich. «Alma, endlich bist du wieder zurück! Wie war’s in Gavignano? Gab es viele schöne Männer da?», lachte sie zwinkernd.
Alma hob den Arm und winkte ab. «Macché! Nein, es war wie immer. Todlangweilig! Ich bin froh, wieder zurück zu sein!» Ihre Stimme wurde leiser und zittrig, Tränen schossen ihr in die Augen.
«Alma, was ist los?» Rachele schaute sie mit ihren kastanienbrauen Augen prüfend an. Racheles Mutter und die jüngere Schwester waren dazugekommen, um sie zu begrüssen.
Alma rang mit sich und stotterte ein leises buongiorno.
«Komm, wir gehen nach draussen. Mutter, ich komme gleich wieder.» Rachele packte Alma am Arm und zog sie ins Treppenhaus. «Du hast Kummer, erzähl doch! Hast du dich verliebt?»
«Sie wollen zurück!»
«Was?»
«Wir müssen weg von Rom», presste Alma hervor.
«Ins Puschlav?»
«Ja!»
Die beiden jungen Frauen, in langen Röcken, langärmligen weissen Blusen und mit hochgesteckten Frisuren, traten auf die Strasse und wandten sich Richtung Piazza. Alma war den Tränen nahe.
«Aber wieso denn, was ist los? So plötzlich!» Rachele schaute die Freundin mitfühlend an.
Alma brachte kein Wort hervor.
«Die Heimwehkrankheit?»
Alma zuckte die Schultern.
«Immer dieses Puschlav!», ereiferte sich Rachele. «Immer träumen die Erwachsenen vom Zurückkehren. Wie kann man nur?» Sie drückte Almas Arm: «Ich will nicht, dass du weggehst!»
«Ich will ja nicht weg!» Almas Beine fühlten sich an wie Blei.
«Die begreifen einfach nicht, dass unser Leben hier ist. Wir wollen doch niemals weg, schon gar nicht zurückkehren!»
«Pah, zurück!» Alma nahm die Händler unter den Arkaden mit ihrer billigen Ware und die Dienstmädchen mit den vollen Körben und Einkaufsbündeln nicht wahr.
«Aber erzähl doch, was los ist!» Als sie die Strasse überquerten, hielt Rachele die Freundin am Arm zurück, bis die Pferdekutschen und die quietschende Tramway vorbeigefahren waren. Dann drängten sie sich an den Marktständen vorbei, hielten sich bei den Fleisch- und Fischständen die Nase zu und betraten, ohne die herumlungernden Bettler zu beachten, durch das schmiedeeiserne Eingangstor die ausgedehnte Parkanlage.
Alma begann zu erzählen. Vom schlechten Gesundheitszustand des Vaters und der Prognose des Arztes, nur die Berge könnten ihm Heilung bringen. Sie seien kaum aus Gavignano zurück gewesen, als er sich über den geringsten Lärm aufgeregt habe. Er habe mit den Kleinen geschimpft wie noch nie, sei dagesessen mit finsterem Blick und habe kaum etwas gegessen. «Dabei ist er nur noch Haut und Knochen. Das ist nicht Babbo, verstehst du?»
Rachele war bestürzt. «Ja, nein, aber … Cristoforo war doch immer so … !» Rachele suchte nach Worten. «So lieb!»
Alma richtete sich auf, und mit Wut in der Stimme meinte sie: «Er hat immer zu viel gearbeitet. Das hatte ihm schon zio Edgardo gesagt!»
«Hmm.»
«Aber er wollte nicht hören!», fügte Alma in bitterem Ton hinzu.
«Und das einzige Mittel, das helfen soll, ist die Heimkehr? Das kann ich nicht glauben! Die Medizin ist doch heute so fortgeschritten!» Rachele schüttelte den Kopf.
«Eben! In drei Monaten werde er tot sein, wenn er nicht sofort zurückkehrt! Was kann ich denn dagegen tun?»
Die beiden Freundinnen schwiegen. Auf dem von Blumenbeeten gesäumten Spazierweg, der sich zwischen den Rasenflächen dahinschlängelte, waren sie zu den Ruinen des monumentalen Wasserkastells gelangt. Zu dessen Füssen war ein Teich angelegt, und Palmen ragten in die Höhe. Sie setzten sich weitab vom hektischen Markttreiben auf eine freie Sitzbank unter einer ausladenden Libanonzeder, die sie vor der stechenden Sonne schützte.
Alma blickte ins Leere, sah plötzlich die Lichtbahnen, die von der Kuppel ins Innere des Petersdoms einfielen. Der goldene Glanz erfüllte sie mit Kraft. Alma fühlte sich in jenes Gefüge von Säulen, Statuen und Inschriften versetzt. Sie sah, wie Vater sie am Ärmel zupfte und sie, Romeo und Attilio zur Marmorskulptur hinführte. Zur jungen Madonna mit dem toten Jesus auf dem Schoss. Andächtig hatte Vater dort zwei Kerzen angezündet. «Beten wir für Alfredino und für Amelia, sie sind im Paradies», hatte er zu ihnen gesagt, das grosse frisch gebügelte Taschentuch aus seiner Hosentasche gezupft und leise die Nase geschnäuzt. Dann hatte er sie an der Hand genommen, und sie hatten den Petersdom verlassen. War das Trost genug, um den Schmerz der Seele auszuhalten? Eine Kerze, ein Gebet?
Rom,
Markt an der Piazza Vittorio Emanuele II, 1913.
«Ich will einfach nicht weg von Rom!»
«Gibt es wirklich keinen anderen Weg?», fragte Rachele.
Alma erzählte, Vater habe bereits zio Edgardo geschrieben und ihn gebeten, für die Familie im Puschlav eine Bleibe zu finden. Mitte November sollten sie abreisen. Allerspätestens. Vater werde das Geschäft Clemente und Tiziano verkaufen, denn die seien nicht bereit, ihn nur für die Zeit seiner Abwesenheit zu vertreten.
«Aber dann kommt ihr ja wieder!», rief Rachele überrascht. «Wenn ihr nur für die Zeit bis zu seiner Genesung wegbleibt?»
«Weisst du, wie lange das dauern kann, wenn es Vater so schlecht geht? Eine halbe Ewigkeit!»
«Nein, Alma, überleg doch, als wie heilsam die Berge gepriesen werden! Aria genuina! Alle schwärmen von der reinen Luft und der Stille der Natur. Vielleicht ist da doch etwas daran?» Rachele sprach eindringlich auf Alma ein. «Ihr werdet in wenigen Monaten wieder in Rom sein», sagte sie voller Hoffnung.
«Ach, na ja, ich weiss nicht!»
«Doch, doch! Ihr werdet zurückkehren. Bald!»
«Vielleicht hast du Recht.»
«Und wenn ihr wieder da seid, zünden wir im Petersdom hundert Kerzen an, und ich komme mit auf die Kuppel! Abgemacht?»
«Abgemacht!» Alma lächelte. Sie fühlte sich besser.
Die Freundinnen erhoben sich. Alma hakte sich bei Rachele ein und fragte, was sie während der Sommerwochen gemacht habe. Während sie plauderten und sich einig waren, dass sie sich so bald wie möglich wieder treffen und auch Marianna besuchen würden, spazierten sie an grün glänzenden Magnolienbäumen vorbei, schritten über die am Boden verstreuten und zertretenen Gemüse- und Fischabfälle hinweg und verliessen die Piazza.