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bb) Die Trennung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und aktiver Verwaltung

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Konsulat und Kaisertum führen zu einer Spezialisierung der Aufgaben innerhalb der Verwaltung. So führt die Verfassung vom 22. Frimaire des Jahres VIII (13.12.1799) den Conseil d’État ein und legt seine drei Hauptaufgaben in den Bereichen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung fest. In Art. 52 heißt es: Der „Conseil d’État ist betraut mit der Abfassung von Gesetzentwürfen und Verordnungen der öffentlichen Verwaltung sowie der Beilegung von Streitigkeiten, die im Bereich der Verwaltung auftreten“. Infolgedessen äußert sich der Conseil d’État zu Konflikten zwischen der Verwaltung und den Gerichten, zu Rechtsstreitigkeiten, für die vormals die Minister zuständig waren, und über Rechtsbehelfe (recours) gegen Entscheidungen der Präfekturräte (Conseils de préfecture). Ende 1806 wird innerhalb des Conseil d’État mit der Commission du contentieux (Kommission für Rechtsstreitigkeiten) ein auf die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten spezialisiertes Organ eingerichtet. Sie ist ein „halb verwaltendes, halb rechtsprechendes Organ“ (Napoléon), das die administrés anrufen können und vor dem ein kontradiktorisches Verfahren stattfindet. Die Kommission wird praktisch zum Richter über rechtliche Streitigkeiten.[11] Diese erste Andeutung einer Trennung zwischen der Verwaltung im engeren Sinne und einem Verwaltungsrechtsstreit innerhalb eines Verwaltungsorgans wird zur Keimzelle der Verwaltungsgerichtsbarkeit und zur Grundlage der modernen Verwaltungsrechtsordnung.

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Diese Organisation ist das gesamte 19. Jahrhundert hindurch Kritik ausgesetzt, vor allem wegen der Trennung von Verwaltungs- und Rechtsprechungsfunktion, die dem Gedanken widerspricht, dass „Richten über die Verwaltung immer noch Verwaltung ist“, und weil sich der Conseil d’État darauf beschränkt, dem Staatschef, der die Entscheidungsgewalt behält, seine Meinung mitzuteilen.[12] Obwohl im Laufe der Zeit das Verfahren des Verwaltungsrechtsstreits verbessert wird und das Kontrollniveau zunimmt, räumt erst die Republik dem Conseil d’État eigene und souveräne Entscheidungsgewalt ein. Was bleibt und von der Republik anerkannt wird (Gesetz vom 24.5.1872), ist die dem Conseil d’État eingeräumte Möglichkeit, eine juristische Doppelfunktion auszuüben: Berater der Regierung[13] einerseits und Verwaltungsrichter erster Instanz andererseits.

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So folgt der Gerichtsstatus des Conseil d’État aus zwei verschiedenen Entwicklungen: zum einen aus der Vertiefung der Trennung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und aktiver Verwaltung, zum anderen aus der Ausweitung der effektiven Verwaltungskontrolle.

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Auch wenn der grundlegende Übergang zur gesetzlichen Übertragung von Gerichtsbarkeit (justice déléguée) vom Willen des Gesetzgebers ausgeht, beruhen die Umstände, die zur Bekräftigung seines gerichtlichen Charakters führen, doch auf der Entwicklung des Conseil d’État selbst. Tatsächlich schafft das Gesetz vom 24.5.1872 den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen der Conseil d’État seine Fähigkeit zur Aneignung des Liberalismus entwickelt – und zu einem seiner Glanzstücke wird –, ohne das monarchische Erbe zu verleugnen. Er wirkt darauf hin, dass sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Republik etabliert, indem er sie nicht ohne Erfolg zu einem Instrument des Schutzes der Bürger gegen Machtmissbrauch und gleichzeitig zu einem Werkzeug guter Verwaltung macht.

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Das Gesetz vom 24.5.1872 belässt noch eine wichtige Funktion bei der aktiven Verwaltung: Die Verwaltungsbeamten behalten ihre Stellung als Richter, die Minister bleiben ordentliche Richter in Verwaltungsangelegenheiten.[14] Diese Situation lässt sich mit der Vorstellung, die Verwaltung sei dem Gesetz unterworfen, kaum vereinbaren. Sie wird vom Conseil d’État seit den 1880er-Jahren bekämpft und in der Entscheidung Cadot vom 19.12.1889 verurteilt. Nach dieser Entscheidung dürfen von nun an alle verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten direkt vor den Conseil d’État gebracht werden. Die Abschaffung der Ministerialgerichtsbarkeit, die die Trennung der Begriffe von Verfahren und Gerichtsbarkeit vornimmt, ermöglicht den Aufstieg des recours pour excès de pouvoir (Anfechtungsklage wegen Überschreitung der Befugnisse) in der Familie der Klagearten. Die Besonderheit dieses recours resultiert vor allem aus den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit er angenommen und die angegriffene Handlung von einem Richter eingehend geprüft wird. Er soll den Zugang zu Gericht erleichtern und ist durch seine Funktion im System der gerichtlichen Verwaltungskontrolle gerechtfertigt. Diese besteht darin, rechtswidrige Handlungen der Verwaltung zu sanktionieren, damit die Rechte der administrés nicht verletzt werden. Dies erklärt auch seine Bezeichnung als „Prozess, der einem Akt gemacht wird“ (Edouard Laferrière). Erst mit Hilfe dieses besonderen Rechtsbehelfs zeigt der Conseil d’État, dass er seiner gerichtlichen Aufgabe gerecht werden kann.

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Darüber zeigt sich die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die eine demokratische Anforderung an die Richterschaft ist, in einer Ausdehnung der Kontrolle an sich und einer Ausdehnung der Modalitäten dieser Kontrolle. Die Fortschritte, die die Rechtsprechung in diesem „goldenen Zeitalter“ des Verwaltungsrechtsstreits – einer Phase, in der die Grundlagen des modernen Verwaltungsrechts geschaffen worden sind – macht, werden in den folgenden Epochen verstärkt und gefestigt. Die Richter bemühen sich jetzt vor allem um die Beschränkung der rechtsfreien Räume und die Lockerung der Voraussetzungen, unter denen die öffentliche Gewalt zur Verantwortung gezogen werden kann.[15] Noch heute wird der Bereich der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung durch die Richter selbst abgesteckt. Sie bedienen sich dabei zweier „Techniken“: zum einen einer fortschreitenden Verfeinerung und Vertiefung der Kontrolle des excès de pouvoir und zum anderen einer richterrechtlichen Anreicherung der Normen, auf deren Grundlage das Handeln der Verwaltung beurteilt wird.

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Auf diesen Grundlagen entwickelt sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich und innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit das Verwaltungsrecht als autonome Disziplin. Der durch und durch auf den Verwaltungsrechtsstreit bezogene Ansatz des Verwaltungsrechts prägt dieses bis heute. Das Verwaltungsrecht als Recht des Verwaltungshandelns wird zu einem Recht des Schutzes der Rechte der administrés, indem es die Ausübung von Kontrolle gegenüber der öffentlichen Verwaltung ermöglicht.

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