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bb) Anpassungen der Verwaltungsrechtsprechung
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Der Dualismus der Gerichtsbarkeiten, der der Verwaltung einen besonderen Richter gibt, der lange Zeit der hauptsächliche Erzeuger von Verwaltungsrecht war, hat sich in der französischen Rechtslandschaft etabliert, vor allem dank seiner Fähigkeit, sich den demokratischen Anforderungen anzupassen. Die gerichtliche Bindung der Verwaltung an das Recht resultiert aus der ständigen Erweiterung der Kontrollinstrumente und der Ausdehnung des Kontrollumfangs. Seit zwanzig Jahren ist die Verwaltungsrechtsprechung nun auf nationaler Ebene demokratischen Anforderungen und auf supranationaler Ebene den Anforderungen des Straßburger Gerichtshofs ausgesetzt, der Druck auf ihre Organisation, ihre Funktionsweise und ihre Rechtsprechung ausübt.
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Die Langsamkeit der Verwaltungsrechtsprechung wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits sanktioniert. Unter Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 1 EMRK hat der Gerichtshof Frankreich mehrfach wegen unangemessener Verzögerung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen verurteilt.[36] Diese Entscheidungen haben verschiedene Reformen angestoßen, die zu einer Reduzierung der durchschnittlichen Verfahrensdauer auf ein Jahr geführt haben. Die damaligen organisatorischen Reformen der Verwaltungsgerichtsbarkeit haben den Conseil d’État an die Spitze der Verwaltungsgerichtsbarkeit gesetzt. Seine doppelte Funktion wurde gewahrt, so dass er als Berater der Exekutive und seit der Verfassungsänderung vom Juli 2008, wenn auch eher beiläufig, als Berater des Parlaments an der Entwicklung des Rechts mitwirkt.[37] Derzeit ist die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit[38] folgendermaßen aufgebaut: Eingangsinstanz sind die 1953 eingerichteten tribunaux administratifs (Verwaltungstribunale).[39] Ihre Urteile können vor den 1987 eingerichteten cours administratives d’appel (Verwaltungsberufungsgerichte) mit der Berufung angefochten worden.[40] Die Berufungsurteile wiederum können Gegenstand eines recours en cassation (Revision) vor dem Conseil d’État sein. Der Conseil d’État hat sich daneben im Zuge der Reformen bestimmte weitere Zuständigkeiten als Eingangs-, Berufungs- und Schlussinstanz bewahrt.[41] Die letzte Umgestaltung der Gerichtsordnung (1987) ist zudem Ausgangspunkt einer Verbesserung der Verwaltungsrechtsprechung gewesen, die sich an der in diesem Rechtsgebiet außergewöhnlichen Beschleunigung der Reformen ablesen lässt: Ermächtigung zu Anweisungen gegenüber der Verwaltung (injonctions) und zur Verhängung von Zwangsgeldern (astreinte), Einführung von Eilverfahren (procédures d’urgence) u.a. Dazu gehören auch rechtliche Fortschritte, die auf Initiativen der Richter zurückgehen. Drei Beispiele sind in dieser Hinsicht bedeutend. Zunächst kann das allgemeine Interesse die vorübergehende Aufrechterhaltung der rechtlichen Wirkungen eines Verwaltungsakts nach seiner Aufhebung erzwingen, ohne dass dadurch das Prinzip außer Kraft gesetzt würde, nach dem ein aufgehobener Verwaltungsakt so zu behandeln ist, als hätte es ihn nie gegeben. Der Verwaltungsrichter kann folglich die zeitlichen Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung unter bestimmten Voraussetzungen ändern.[42] Diese Entwicklung ist Teil einer allgemeinen Veränderung der Rolle des Verwaltungsrichters, der jetzt der tatsächlichen Durchsetzung seiner Entscheidung und den insoweit zur Verfügung stehenden Mitteln größere Aufmerksamkeit schenkt. Auch schenkt der Verwaltungsrichter der Kontrolle der Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit internationalen Vereinbarungen („conventionnalité“) größere Aufmerksamkeit:[43] Zum einen prüft er die Vereinbarkeit französischen Rechts mit Unionsrecht (Verträge und all- gemeine Grundsätze des Unionsrechts entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union) und die Frage, ob es einen dem als verletzt gerügten Verfassungsgrundsatz entsprechenden Grundsatz des Unionsrechts gibt. Ist dem so, hat er zu prüfen, ob die Richtlinie gegen Primärrecht verstößt. Existiert hingegen im Unionsrecht kein dem geltend gemachten Verfassungsgrundsatz entsprechender Grundsatz, hat der Richter zu prüfen, ob die streitige Regelung mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht. Zum anderen hat der Conseil d’État anerkannt, dass der nationale Gesetzgeber für Gesetze verantwortlich ist, die gegen internationale Verpflichtungen Frankreichs verstoßen, insbesondere solche aus der Europäischen Menschenrechtskonvention.[44] Schließlich dehnt der Verwaltungsrichter die Kontrolle der Verwaltung auf zwingende Vorgaben des Europarechts aus. So hat sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit für eine Beschränkung verwaltungsinterner Maßnahmen (mesures d’ordre intérieur) eingesetzt, vor allem im Bereich des Strafvollzugs. In Fortentwicklung der Entscheidungen Hardouin und Marie aus dem Jahre 1995[45] wurde in mehreren Entscheidungen – unter ihnen auch die des Conseil d’État vom 14.12.2007[46] – anerkannt, dass bestimmte Entscheidungen im Strafvollzug, die die Situation der Häftlinge betreffen, belastend sind und daher im Wege des recours pour excès de pouvoir angegriffen werden können. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass für die Frage, ob eine bestimmte Entscheidungskategorie im Bereich des Strafvollzugs dem verwaltungsinternen Bereich zuzuordnen ist oder nicht, ihre Natur und die Bedeutung ihrer Auswirkungen maßgeblich sind.
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Angriffe gegen die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben zu einer Diskussion über die Funktionsweise der Verwaltungsgerichte geführt, die auf einem subtilen, über Jahre hergestellten Gleichgewicht beruht und daher nur schwer zu begreifen ist. In der Folge kam es zu einer Konfrontation zwischen nationalen und konventionsrechtlichen Ansätzen. Vor dem Hintergrund des Art. 6 Abs. 1 EMRK, aus dem er das Recht auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter in Verwaltungsangelegenheiten ableitet, ist der Straßburger Gerichtshof zu der Überzeugung gelangt, dass die institutionelle Unabhängigkeit der Mitglieder des Conseil d’État und seine Doppelfunktion für sich nicht gerügt werden könnten, wohl aber Mängel bei Anwendung der théorie des apparences (Theorie des Anscheins, nach der ein Richter befangen ist, wenn nach dem äußeren Eindruck eines vernünftigen Dritten Zweifel an seiner Objektivität bestehen) bestünden. Es bleibt festzuhalten, dass zwar ein großer Teil der Beratungsfunktion einen gewissen Schutz genießt, die zurückhaltende Lösung aber die Doppelfunktion des Conseil d’État nicht vollständig absichern konnte. Allem Anschein nach entsteht eine solche Absicherung aber gerade.[47] Ebenso war die Einrichtung des commissaire du gouvernement (unabhängiger Berichterstatter, der einen Entscheidungsvorschlag in der mündlichen Verhandlung unterbreitet) bei den Verwaltungsgerichten heftiger Kritik ausgesetzt. Der Gerichtshof hat Veränderungen verlangt, die so umfassend sind, dass sie eine Tradition zu beseitigen drohen, die den Conseil d’État und die französische Verwaltungsrechtsprechung prägt. Der französische Staat reagiert darauf durch verschiedene Reformen. Die letzte war ein Dekret vom 7.3.2008, das zu einer verstärkten organisatorischen Trennung der Funktionen des Conseil d’État geführt hat.[48]
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Neben diese Beseitigung spezifischer Charakteristika der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit tritt Konkurrenz im Bereich der Verwaltungskontrolle, insbesondere durch das Eingreifen und die Vermehrung unabhängiger Verwaltungsbehörden, die im Raum zwischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit agieren, aber auch durch den zunehmenden Rückgriff auf den Vertrag als Handlungsmodus der öffentlichen Hand. Der Vertrag verdrängt Formen hierarchischer Kontrolle und ersetzt die klassischen Kontrollverfahren. Darunter leidet die privilegierte Stellung des Conseil d’État im Hinblick auf die Anwendung verwaltungsrechtlicher Normen erheblich: Innerhalb der Verwaltung angesiedelt und von der aktiven Verwaltung getrennt, gewährleistete er eine administrative Rechtserzeugung. Diese ist heute durch die mitunter freiwillige, mitunter aber auch erzwungene Annäherung an das europäische Recht bedroht.
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich › II. Verwaltung und Steuerung