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aa) Ein nicht kodifiziertes Recht

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Das Verhältnis zwischen Kodifikationsidee und Verwaltungsrecht ist zumindest konfliktbeladen. Sehr früh hat sich daher die Überzeugung durchgesetzt, das Verwaltungsrecht widersetze sich jeder Kodifizierung, und noch heute wird allgemein gelehrt, eines der wichtigsten Merkmale des französischen Verwaltungsrechts sei, im Gegensatz zum Privatrecht, sein richterrechtlicher Charakter. Auch durch die Wiederbelebung der Kodifikationsidee für Teilbereiche des Verwaltungsrechts seit 1989 (u.a. Code général des collectivités locales und Code de justice administrative) hat sich die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit einer Kodifizierung des Verwaltungsrecht in Frankreich nicht erledigt.

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Das Hauptargument gegen die Kodifizierung des Verwaltungsrechts ist unverändert geblieben, wie die in einem Abstand von 100 Jahren entstandenen Arbeiten der beiden Juristen Edouard Laferrière und Raymond Odent zeigen. Odent, Präsident der section du contentieux des Conseil d’État (für Rechtsprechung zuständige Sektion des Conseil d’État) stellt der „Rigidität des geschriebenen Rechts“ als Ursache von Versteinerung die Flexibilität des Richterrechts als Urheberin von „Fortschritt“ gegenüber. Dieser Ansatz klingt wie ein Echo auf die Arbeiten von Laferrière, der im Verwaltungsrecht aufgrund der „Fülle der Texte, der Vielfalt ihrer Ursprünge und ihrer fehlenden Abstimmung untereinander“ die Rechtsprechung für unentbehrlich hält, da „nur sie allein dauerhaften Prinzipien und kontingenten Bestimmungen Rechnung tragen, eine Hierarchie der Texte etablieren und dort, wo diese Lücken aufweisen, unklar oder unzureichend sind, durch Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien oder Billigkeitserwägungen Abhilfe schaffen kann“.[33] Aus der Feder zweier herausragender Mitglieder des Conseil d’État stammend, sind beide Äußerungen Stützen eines Programms, das die Rolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Schaffung des Verwaltungsrechts herausstellt.[34] Mit anderen Worten: Die Kodifikationsidee erscheint als Bedrohung der historisch gewachsenen und akzeptierten Rolle der Rechtsprechung bei der Ausgestaltung des französischen Verwaltungsrechts.

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Die Gegenüberstellung einer Erzeugung von Verwaltungsrecht durch Normtexte und durch Rechtsprechung, der mutmaßliche Niedergang seines richterrechtlichen Charakters sowie die Vorstellung, dass die Kodifizierung den Richter zu einer Autorität ohne Macht mache, sind jedenfalls angreifbar. Dennoch nähren diese Annahmen (noch) die Vorbehalte gegen eine Kodifizierung des Verwaltungsrechts. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach der Reichweite der Befugnisse des Verwaltungsrichters und mit ihr die Frage nach der Stellung des Conseil d’État aufgeworfen.

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Als ein wesentlicher Erzeuger (sowohl in der beratenden als auch in der rechtsprechenden Funktion) und als wichtigster Interpret des Verwaltungsrechts sieht sich der Conseil d’État tatsächlich in doppelter Hinsicht gestört: einerseits durch das Inkrafttreten von Normen, auf deren Entstehung er kaum Einfluss genommen hat (weil sie supranationalen Ursprungs sind oder auf den Gesetzgeber oder das Verfassungsrecht zurückgehen), andererseits durch die Konkurrenz der europäischen Richter (die Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg) und des Conseil constitutionnel auf nationaler Ebene. Dies führt zu einer Neuausrichtung der Quellen des Verwaltungsrechts. Auch wenn diese Neuausrichtung die traditionelle Rolle der Rechtsprechung keineswegs in Frage stellt, führt sie beim Betrachter doch zu Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Aufbau der Normen und der Methode, die angewendet werden muss, um ein Rechtsgebiet zu erfassen, das, um nur ein Beispiel zu nennen, weiterhin die Wiederbelebung der Kodifikationsidee forciert.[35] Die Entwicklungen in diesem Bereich wirken destabilisierend und deuten auf die Notwendigkeit der Erneuerung bestehender oder der Entwicklung neuer Analysewerkzeuge auf Seiten der Rechtswissenschaft hin. Am wichtigsten aber sind die Harmonisierung der Quellen des Verwaltungsrechts mit denen der anderen Rechtsgebiete und die Schließung der Kluft zwischen den Quellen und Methoden des öffentlichen Rechts und des Privatrechts.

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