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ОглавлениеRettung durch András Gibt es etwas, das nicht vom Übrigbleiben redete, nicht mit Bezügen auf die Tote aufwarten könnte? Es rastet ein, bevor ich’s bemerke – mir fast zu selbstverständlich, wie Befindlichkeiten, dann Gedanken es heranziehen, einsaugen und nahezu allem eine Schwere verschaffen, die es vordem nicht hatte. Sodass ich den Abstand zu denen kaum wahrnehme, die nicht gerade jemanden verloren haben. Vorsicht! Es gibt einen Hochmut von Trauernden – ich als Ausnahmefall geehrt durch den Hieb, der mir verpasst worden ist.
Abends im Bus auf dem Weg ins Konzert überfällt mich, wie stimmig es ist, dass ich gefahren werde, ich niste mich in der Konstellation ein. Soweit Winterschmutz und aufgemalte Reklamesprüche es erlauben, sehe ich durch die Fensterscheiben Ladenketten und Menschengetümmel, Autolichter, blinkende Ampeln usw. Leben zieht da draußen vorbei, von dem ich abgetrennt bin. Da jede Situation nach Rechtfertigungen angelt, fällt mir der Spruch der 80-Jährigen ein, der ich einst im Herbst den Garten umgegraben habe: Man müsse sehr alt werden, um Natur richtig zu begreifen, weil man von ihr nichts mehr will. Von denen draußen will ich nichts.
Eine Stunde später im Konzert ergreift es mich. Das übertragene Verständnis nährt sich aus dem konkreten: Ich habe mich greifen lassen. András Schiff spielt die »Davidsbündlertänze« und die »Kreisleriana«, spielt Schumanns bekennerischen Lebensüberschwang nahe am Anschein des hier und jetzt Entstehenden auf eine Weise hinein, die die Musik zur realsten aller realen Gegenwart macht – das jetzt Gegenwärtige eilends von anderem Gegenwärtigen verdrängt. Kaum bleibt Zeit, eine Gedächtnisspur zu sichern, bei einem Detail zu verweilen, zu memorieren. Genau das intendiert die Apotheose des Vorbei und Sonie-wieder, ihre Ungeduld erlaubt nicht einmal den kleinen Abstand, dessen es bedürfte, um das Vorbei als solches zu reflektieren. Thematische Bezüge, stimmige Aufeinanderfolge, Korrespondenzen, Architektur – geschenkt! Wen das interessiert, wer sich, sei’s für Augenblicke, dem reißenden Strom verweigert und Eindrücke seitwärts abzulegen, |17| festzuhalten versucht, veruntreut den Sinn dieser Musik – und setzt sich zugleich einem Paradoxon aus: Sehr wohl lädt auch sie ein, aufgehalten zu werden. Damit wir die jubelnde, grausame Vergänglichkeit verspüren, an ihr authentisch leiden können, muss es uns um das Vergehende leidtun, muss an ihm ein Gran Unvergänglichkeit haften. Derlei »Verweile doch …« nistete diesmal in jeder winzigen Verzögerung, in jedem geringfügig hinausgeschobenen Schlussklang, jeder liebevoll ziselierten Melodie. Für den nach Bezügen Süchtigen war es, noch im Furor, mit dem die Musik fortstürzte, ein Privatissimum in »Stirb und werde«.
Zugleich umgekehrt: Zu den schönsten Diesseitsmetaphern, unter anderem des Lindenbaums als des Ortes der Liebenden oder der Mondnacht mit sanft rauschenden Ähren, gehören auch die über den Bildrand hinausblickenden Konjunktive: Die »Zweige rauschten, / als riefen sie mir zu«, die Seele, die »weit ihre Flügel« ausspannte, »als flöge sie nachhaus«.