Читать книгу Musik und Abschied - Peter Gülke - Страница 18
|67| 10
ОглавлениеZwei Königreiche Ein nach dem Besuch im Mai 1747 schriftlich verlängertes Turnier war das »Musikalische Opfer« gewiss, zugleich Demonstration großer Traditionen, jedoch auch Behauptung eines unendlich sich dehnenden Reichs, worin der große König nicht der Größte war. Dem widerspricht die im Devotionsbarock abgefasste Dedikation nicht. Zirkushafte Wettbewerbe, Vorführungen von Virtuosen und Wunderkindern waren keine Seltenheit; Bach wäre 30 Jahre zuvor in Dresden betroffen gewesen, hätte der Konkurrent sich nicht aus dem Staube gemacht; keine 15 Jahre nach der Potsdamer Audienz wird Leopold Mozart sein Söhnchen europaweit herumschleppen.
Friedrich wusste, wen er vor sich hatte: »Meine Herren, der alte Bach ist gekommen«; immerhin war er ein beachtlicher Flötist und komponierte, wohl unter Mithilfe unter anderem von Johann Joachim Quantz. Dennoch – als er ein sechsstimmiges Ricercar über das knifflige, fortwährend zu Modulationen zwingende Thema extemporiert wünschte, waren Sensationslust, Hochachtung, Ignoranz und Überheblichkeit ungut beieinander. Spätestens da muss Bach sich als Schamane oder Dinosaurier vorgekommen sein. »Ich bemerkte aber gar bald, daß wegen Mangels nöthiger Vorbereitung, die Ausführung nicht also gerathen wollte, als es ein so treffliches Thema erforderte« – so bemäntelt seine Dedikation eine Aufforderung, die für ihn letzten Endes weniger peinlich war als für den König.
Dafür spricht die Schnelligkeit der Nachlieferung knapp drei Monate nach dem Besuch, noch mehr aber, was Bach da übersandte – ein so diskretes wie durchschaubares Rückspiel: Er demonstrierte, worin keiner ihm gleichkam und lieferte einerseits halbwegs praktikable, andererseits kaum realisierbare Musik.
Das »Ricercar a 3« war ein – gewiss weiter ausgearbeitetes – Protokoll dessen, was er im Mai improvisiert hatte, mit dem »Ricercar a 6« trug er nachträglich dem Wunsch des Königs Rechnung, mit der Triosonate bediente er dessen Hausmusik, und in den Kanons komponierte er eine Trittleiter, die auf je unterschiedliche Weise an nur knapp vorstellbare |68| Musik heranführt. Das mag spekulativ erscheinen, da die Perfektionierung der Klangmittel heute einen Hör-Positivismus begünstigt, der die Kongruenz von Vorgestelltem und Klingendem bequem voraussetzt; hinter Klingendem vermuten wir kaum noch, was zwar kompositorisch halbwegs definiert, vollständiger Realisierung jedoch nicht zugänglich ist. Noch Schumann postulierte »Geisterstimmen«; beim späten Beethoven begegnen mehrmals satztechnisch präzis eingerahmte Hohlräume, in die die Erwartung vorgegebene Verläufe hineinprojizieren kann.
Wie aber erst zu Zeiten, da dem Instrumentarium engere Grenzen gezogen waren, da es mehr Beschränkungen bei Tonhöhen gab, die Bögen der Streicher dichtes Legato kaum erlaubten, die Sonorität hoher und tiefer Lagen bei Tasteninstrumenten stark differierte und die Ohren hinter ornamentierten Melodieverläufen, stilisierten Tänzen etc. zugrundeliegende Modelle mitzuhören gewohnt waren! In den Fugen und der Chaconne der Sonaten und Partiten für Violine hat Bach oft über das geigerisch Erreichbare hinauskomponiert, dem Nichtrealisierbaren im Realisierten jedoch Spuren vorgegeben; virtuell bleiben die Sätze auch dort drei- bzw. vierstimmig, wo drei oder vier Stimmen nicht präsent sind. Keine Schein- oder Fassadenpolyphonie also: Die Hüllkurve des Nichtklingenden schmiegt sich dem Klingenden hautnah an, dieses umschließt jenes so eng, als könne die Differenz getilgt werden.
Den Anfang bei den Ausflügen ins Mitgemeinte macht ein Krebskanon – wer kann sich rückwärts laufende Musik vorstellen, ohne dass diese zu Augenmusik würde? –, setzt sich in einem über das »Thema Regium« gebauten zweistimmigen Kanon (Nr. 2) und einem unter diesem geführten Kanon in Gegenbewegung fort (Nr. 3), sodann in einem weiteren (Nr. 4), dessen Kanonstimme, ebenfalls in Gegenbewegung, zudem in zwei verschiedenen Längenwerten gespielt werden muss. Dem folgt der »Canon a 2 per tonos« (Nr. 5), dessen zweite Stimme durch einen quintversetzten Kanon verdoppelt wird, während der Satz alle acht Takte einen Ganzton nach oben rückt, sodass nach sechs Durchläufen c wieder erreicht ist. Damit indes braucht das Stück nicht zu Ende zu sein – erste Kulmination innerhalb von fünf Perpetuum mobiles, dazu bestimmt, sich in der Spirale der »tonos« immer weiter nach oben zu winden.
|69| Bei der »Fuga canonica in Epidiapente« (Quinte, Nr. 6) über einem freien Bass, der gegen Ende das »Thema Regium« aufnimmt, markiert Bach einen vorläufigen Abschluss, vielleicht bewusst absetzend gegen die folgenden Nummern 7 und 8, beide »Canon perpetuus« überschrieben, deren zweiten er eigens für Traversflöte, Violine und Continuo bestimmt; die abgeleitete Stimme verläuft, eine Quint über der Primärstimme einsetzend, wieder in Gegenbewegung.
»Quaerendo invenietis« (wenn ihr sucht, werdet ihr finden) überschreibt er die Nummern 9 und 10, verzichtet in der Kanonstimme, mit der Verrätselung kokettierend, auf die Markierung der späteren Einsätze, bei der Nummer 9 gar auf einen wie in Nummer 10 durch zwei nebeneinandergesetzte Schlüssel gegebenen, dezenten Hinweis. Des Rätsels Lösung ist in Nummer 9 die eine Sept tiefer in Gegenbewegung laufende zweite Kanonstimme; Nummer 10 – »Canon a 4« – realisiert sich als vierstimmiger Satz mit jeweils nach sieben Takten hinzukommender weiterer Stimme, beide Stücke wiederum ohne Kadenzierung und idealiter zu endlosem In-sich-Kreisen bestimmt.
Nur einer von zehn Kanons kadenziert »ordnungsgemäß«; alle anderen laufen im Kreis, und jener fünfte dreht sich in eine Höhe, in der er am Ende unspielbar, unhörbar sein würde. Deutlicher kann die Lektion in alle Materialität hinter sich lassender, in platonische Idealität aufsteigender Musik nicht ausfallen.
Angesichts der von der »Hausmusik« der Triosonate bis hierhin gedehnten Spannweite und ein und desselben zugrunde gelegten Themas möchte man frei nach Gustav Mahler von einer »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik aufgebauten Welt« sprechen, einer um einen Zentralpunkt versammelten, zu ihm hin aufgelösten Totalität. Sie versichert sich direkter wie entfernter Ähnlichkeiten, in der Konfiguration der Kanonstimmen ebenso wie in der mit untergründigen motivischen Bezugnahmen vielfältig spielenden Triosonate. Mit solchen – Fortspinnungen, Umkehrungen, Fragmentierungen etc. – bahnt Bach in deren erstem Allegro den Weg, in dessen Verlängerung wir die Themen des dritten und vierten Satzes als Emanationen des »Thema Regium« erkennen.
Nicht zuletzt eignet solcher Totalität ein Moment bewusster Zeugenschaft, bewussten Standhaltens. Das schließt, zumal im empfindsam |70| intonierten Andante nach dem barocken Largo, Zeitgenossenschaft nicht aus, im Gegenteil: Der Spagat zwischen der Hausmusik und der tönenden Mathematik der Kanons zeigt überdeutlich, dass Bach nicht einseitig als Anwalt der Welt von gestern auftreten will. Wohl weiß er, woher der neue Wind weht, und ahnt, welche Gestehungskosten der Stilwandel haben wird.
Dies umso mehr, als in jenen Jahrzehnten ein anderes Zeitgefühl und -erlebnis Platz greift, ein von transzendenten Bürgschaften wegstrebender »nisus vorwärts« zu treiben begann, der die alte Wahrheit, jedes Ding habe seine Zeit, in dem Sinne aktualisieren will, dass es die von Ereignissen, Inhalten unabhängige, absolute Zeit nicht gebe, vielmehr Vorangang, Geschichte ihr immanent seien. Schon Leibniz hatte Raum und Zeit relational, als schon für sich substanziell begriffen.
Um derlei zu spüren, braucht Bach, obwohl Mitglied der wissenschaftlich ambitionierten »Mizlerschen Sozietät«, mit einschlägigen Theoretica nicht befasst gewesen zu sein. Die Entfaltungen ex uno im »Musikalischen Opfer« und der »Kunst der Fuge« erscheinen wie Pfeiler im Strom einer historisch begriffenen, zu Neuem fortziehenden Prozessualität, im Blick auf die Horizontale der verrinnenden Zeit wie Plädoyers zugunsten der Senkrechten einer »évolution sur place«, die sich der Entropie, einseitig prozessualer Vergänglichkeit widersetzt.
Zugleich behaupten sie das Königreich des Musikers als eines Herren über die Zeit, der sie substanziiert und noch in sperrigsten Gebilden »prästabilierte Harmonie« erschließt.