Читать книгу Musik und Abschied - Peter Gülke - Страница 11
4
ОглавлениеWeimarische Todesmystik Hört man in frühe Bach-Kantaten tief genug hinein, wird man an Deutungen vollends irre, die nach zugrunde liegenden Erlebnissen fragen. Wie oft, wie suggestiv geht hier »der Mensch mit Heimweh durch die letzte Angst« (Bloch), woher kennt ein 25- bis 30-Jähriger Gefühlslagen, stammen Erfahrungen, ohne die man diese Musik sich nicht vorstellen mag? Wäre in seinem Interesse nicht zu wünschen, dass er die mystisch intonierte Innigkeit der Dichtungen von Salomo Franck nicht in der Tiefe hätte erschließen, verlängern, ihr zu tönender Unmittelbarkeit hätte verhelfen können, wie er es getan hat? Dem dichtenden »Gesammten Consistorial-Sekretär« waren immerhin drei Söhne gestorben, auch war er fast eine Generation älter als Bach. Bei dem, was im Zusammenwirken der beiden zustande kam, müssen innere, bekennerische Veranlassungen umso mehr vermutet werden, als der selbst in religiösen Fragen autoritäre Herzog Wilhelm Ernst pietistischen Strömungen ungern mehr Einfluss gewährte, als sich ohnehin nicht vermeiden ließ.
|18| Einerseits legt Bachs Musik die Frage nach jener vielleicht voreilig »pietistisch« genannten Todes-Kompetenz nahe, andererseits erscheint sie nur halbrichtig gestellt: Es gibt eine Weisheit des Mediums, die nur innerhalb seiner zur Verfügung steht; nur in und über Musik erreichen Musiker Bereiche, die ihnen außerhalb unerreichbar sind – oft möchte man es für sie geradezu hoffen.
Jene Weisheit freilich darf man nicht eo ipso verfügbar denken, sondern als je neu aufscheinend, wo traditionell gewachsene Bedeutungen der Musik mit dem Erlebnisfundus derer zusammenkommen, auf die sie treffen. Ort und Möglichkeit der Konjunktion, Sprungbretter fürs Ineinander von Erlebnis und musikalischer »Erkenntnis« müssen je neu gebaut werden. Mögen noch so viele Topoi mitspielen – die gedämpfte Innigkeit der Flöten und Gamben oder die flutende Metrik im »Actus tragicus« (noch vor Weimar), diskret hinterlegte Cantus firmi und die still-selige Hingebung an die »süße Todesstunde« bleiben neu gefunden.
Die Frage nach der besonderen Kompetenz des jungen Bach lässt sich weder mit Hinweisen auf den Zeitgeist oder Francks Dichtung erledigen noch mit dem Allgemeinplatz, genial Begabte brauchten nicht erlebt zu haben, was sie darstellen, suggestiv Imaginiertes sei ohnehin oft stärker und wirklicher als was uns im »Dunkel des gelebten Augenblicks« begegnet. Insofern wiegt nicht schwer, dass die »süße Todesstunde« auf die am sechzehnten Sonntag nach Trinitatis fällige Geschichte vom Sohn der Witwe von Nain bezogen ist und man von Rollenprosa sprechen könnte.
Neben aller Bezauberung durch die direkt mitteilende Musik kommen wir dem – in Leipzig fortwirkenden – Mirakel der Stücke im Blick auf Disposition und Dramaturgie näher. In der Kantate »Der Himmel lacht, die Erde jubilieret« zum Beispiel konkurriert der Jubel ob der Auferstehung zunächst mit dem als »Jauchzet, frohlocket« ins »Weihnachtsoratorium« übernommenen »Tönet, ihr Pauken, erschallet, Trompeten« aus der Glückwunschkantate für die sächsische Kurfürstin, jähe Wechsel von Tempi und Stimmungslagen sorgen für weltlich-realistische Anschaulichkeit. Je stärker indes die Selbstreflexion des Gläubigen die Oberhand gewinnt, desto mehr reduziert Bach den äußeren Aufwand – mit Höhe- und Zulaufpunkt in der allein dem Sopran, der Oboe und |19| den Streichern gehörigen Arie »Letzte Stunde, brich herein«. Wer bei »Ich hatte viel Bekümmernis« überhört, dass die Bekümmernis – »ich hatte«! – der Vergangenheit angehört, mag erstaunt sein angesichts Bachs unbekümmerter Komposition der Worte. Wie mit dem Erstaunen rechnend eröffnet er die Fuge, als müsse zum Jubel ausgeholt werden, mit einem mehrmals angeschlagenen »ich«; freilich auch, weil sie zwischen kontrastierenden Sätzen steht: einer Sinfonia mit Oboe und Violine als zwei klagend wetteifernden Soli – einem Beginn, an den Bruckner in seiner Fünften Sinfonie angeschlossen haben könnte – und dem hierüber chromatisierend hinausgehenden Lamento von Oboe und Sopran in der Arie »Seufzer, Tränen, Kummer, Not«, die schon in der Sinfonia anklingt. Dergestalt exponiert er eine gewagte, unterschiedliche Affektlagen beanspruchende Dialogizität des Ganzen – wohl auch, um zu legitimieren, dass Jesus als Partner in ein Duett eintritt. Als Wagnis weist es auch der anschließende wiegenliedhafte Chor »Sei nun wieder zufrieden, meine Seele« aus, wenn Bach bei den Worten »Was helfen uns die schweren Sorgen, / was hilft uns unser Weh und Ach?« auf ein Zitat der zweiten Strophe des Chorals »Wer nur den lieben Gott lässt walten« einschwenkt. Erst danach hat erlöster Jubel freie Bahn.
Der Umgang mit Cantus firmi ist etabliert genug, um jene Selbstverständlichkeit zu begünstigen, mit der man Benennung mit Erklärung verwechselt, der Anspruch profilierter Lösungen mithin qua Zuordnung verkleinert wird: Wir haben eine Kategorie, einen Namen, bei denen die Sache unterkommt, und übersehen, was nicht unterkommt. Schon im 15. Jahrhundert begegnen Cantus-firmus-Behandlungen, bei denen kritischer Abstand zu deren Praktikabilität und Selbstverständlichkeit mitkomponiert scheint. So auch bei Bach: »Sei nun wieder zufrieden, meine Seele« gibt eines von etlichen Beispielen, bei denen satztechnisch die Distanz der »nicht-firmen« Stimmen zur Choralmelodie so groß ist, dass von Kommentar, Ausschmückung oder Ähnlichem kaum gesprochen werden kann und wenig zum Eindruck fehlt, das Stück funktioniere auch ohne Cantus.
Hierauf freilich kann Bach es nicht angelegt haben – der Transzendenzbezug ist zu wichtig –, vielmehr auf eine Unmittelbarkeit des Singens und Sagens, die sich vom Symbolanspruch des Cantus abhebt und nicht |20| eigens als zugeordnet verstanden zu werden braucht. Das gilt für die Arie »Letzte Stunde, brich herein« mit dem Choral »Wenn mein Stündlein vorhanden ist« in der Kantate BWV 31 ebenso wie für das in »Komm, du süße Todesstunde« mitgeführte »Herzlich tut mich verlangen / nach einem sel’gen End«, das am Ende – »Der Leib zwar in der Erden / von Würmern wird verzehrt« – im Choralsatz den Schlusspunkt setzt. So nahe in der Aussage die Texte, so groß der Abstand zwischen emblematischem Choral und direkt sprechendem »Kommentar«.
Zum gläubig akzeptierten, gar ersehnten Tod gehören niedrige Schwellen, wiegenliedhaft besänftigte Übergänge nach drüben, tänzerisch gelöstes Entgegenjauchzen, bisweilen eine Mitte zwischen beidem, »Stirb in mir, Welt« in der – freilich nicht gesicherten – Kantate »Meine Seele rühmt und preist« (BWV 189), und ebenso, dass Bach die Musik gewissermaßen als Kundschafterin vorausschickt: In etlichen Sätzen spricht sie, oft als Solo-Instrument – meist Oboe – personifiziert, ausführlicher als der Singende, schiebt diesen gar in die Rolle des Stichwortgebers, so bei der Bitte, die letzte Stunde möge hereinbrechen, in der Kantate »Der Himmel lacht, die Erde jubilieret« (BWV 31), ganz und gar in zwei Arien der Kantate BWV 82 »Ich habe genung«.
Diese, in Leipzig zum 2. Februar 1727 komponiert, belegt die hier etwas pauschal so genannte »Todesmystik« als nicht nur weimarbezogen – weder örtlich noch zeitlich, nicht einmal für Bach selbst: der »Actus tragicus« entstand schon in Mühlhausen. Immerhin hat die »Meisterzeit in Weimar« (Heinrich Besseler) mit den durch Franck angeregten Inspirationen Befestigungen und Ergebnisse gezeitigt, für die etliche Wiederverwendungen von hier Komponiertem sprechen, unter anderem das für verschiedene Positionen erwogene, schließlich ans Ende des ersten Teils der »Matthäuspassion« gestellte »O Mensch, bewein dein Sünde groß«.
Während die zweite Arie der Kantate BWV 82 (»Schlummert ein, ihr matten Augen«) keiner weiteren Erklärung bedarf, hat die dritte mit dem zunächst töricht anmutenden »Ich freue mich auf meinen Tod« oft Verlegenheiten bereitet. Dass Bach jedoch mehr als ein Notopfer an den Text entrichtet hat, belegen neben dem jubelnd aufschießenden Vivace etliche rhetorische Verdeutlichungen: Koloraturen auf »freue«, jähe Fermaten-Aufenthalte bei »fallet sanft und selig zu«, blockierende Hemiolen |21| bei »Not, die mich noch auf der Welt gebunden«, gedehnte Melismen auf »gebunden«. Auch hätte er die Kantate nach dem Februar 1727 kaum viermal oder noch öfter wiederholt, wären jene Verlegenheiten die seinen gewesen.
Freilich bedarf der Text der dritten Arie eines Dolmetschs, als vom Evangelisten Lukas (2, 22 ff.) dem frommen Simeon in den Mund gelegt. Dem »war ein Wort zuteil geworden vom heiligen Geist, er solle den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam auf Anregen des Geistes in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn in die Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen.« Die Arie gehört, wie die »matten Augen« der zweiten, als »Rollenprosa« dem sterbebereiten Simeon; uns gehört sie, anders als jene, nur auf dem Umweg über ihn. Bach setzt die Kenntnis des Umwegs voraus, also auch, dass man sich nicht gleich identifiziere mit dem weltflüchtigen »ach! hätt’ er (der Tod) sich schon eingefunden …, / da entkomm’ ich aller Not, / die mich noch auf der Welt gebunden«.
Die vorausgegangene Arie bedarf keines Umwegs. Nicht einmal bedarf die Musik, um als Schlummerlied wahrgenommen zu werden, der Worte des Singenden; der erscheint eher als Zaungast und bloßer Stichwortgeber. Was für ein Schlaf muss es sein, in den man auf solche Weise gewiegt wird, wie sehr muss der fürs Drüben Zuständige sich gedrungen fühlen, es entsprechend auszurichten! Auch die Satzweise sorgt für Zurückhaltung des Singenden; keine exponierte Anforderung zwingt ihn, nach vorn zu drängen, mehrmals verweilt er auf Haltetönen und lässt den Vortritt den Streichern und der Oboe, die Führung hat er, vom Continuo begleitet, nur in kadenzierenden Takten und den Rahmenteilen des Mittelstücks. Dieses nämlich fällt zwischendurch in den Beginn zurück, womit sich, bei Arien selten, eine rondoartige, überdies zentralsymmetrische Gliederung ergibt:
Ritornell – A – Ritornell / B – A’ – C / Ritornell – A – Ritornell
|22| Weil Ritornell und A-Teil streckenweise identisch sind, die Arie wie im Kreis geht, immer wieder in den Beginn zurückfällt, in ihn sich einspinnen will, wird sie, soweit das Nacheinander im Zeitlauf es zulässt, zum Kokon, zur tönenden, immer neu sich selbst hingegebenen Meditation.
Am Ende der »Matthäuspassion« rückt die Todesmystik das Geschehen vor einen größtmöglichen Horizont. »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen«, singen alle – auch die, die Jesus ans Kreuz genagelt haben, in effigie auch die Gemeinde: Choräle gibt es nun nicht mehr. Der »Abend, da es kühle war«, breitet mildes Licht über die Szene. Unterscheidungen der Genera – Rezitative, Turba-Chöre, Arien, Choräle – fallen fast dahin, die episch breite Arie »Mache dich, mein Herze, rein« gehört eher dem Tableau als dem, der »Jesum selbst begraben« will. Da das Gegenüber von Darstellung und Deutung verblasst, erübrigt sich die Frage, weshalb Henkersknechte, Pharisäer und Hohepriester, immerhin wie Judas Zuarbeiter des göttlichen Heilsplans, mitklagen dürfen und das jämmerliche, über Gebühr gehöhte »Herr, wir haben gedacht« als Entschuldigung ausreicht. »Mein Jesu, gute Nacht« als Refrain in dem von Solisten angeführten Rundgesang verdeutlicht nochmals, dass alle, wirklich alle Beteiligten sich »mit Tränen« niedersetzen und dem Toten »Ruhe sanft« nachrufen.
Dies überwältigend und gefährlich schöne Ende wäre als Ästhetisierung von Glaubensinhalten verdächtig, vergäße man, dass Versöhnung im Sinne der Kreuzestheologie alle und alles einbegreift und dass – anders als bei Johannes, der Jesus mit »Es ist vollbracht« zum Theologen seiner selbst macht – bei Matthäus einer stirbt, der in der letzten, höchsten Not keinen Halt bei Gottvater und dessen Auftrag findet: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Die ungeheure Coda der »Matthäuspassion« war auch vonnöten, um den Schrei des Gekreuzigten aufzuwiegen, jene Versöhnung heimzubringen, die ihm entglitten war – womit er das Menschgewordensein bis in die letzte Konsequenz durchlebt, den Tod, mit dem wir allein sind.