Читать книгу Musik und Abschied - Peter Gülke - Страница 8
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ОглавлениеSchuberts Quintett Damals erschrocken, erinnere ich genau, wie sie die Musik zum ersten Mal hörte – fast erstarrt, mal vornüber gebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben, mal mich mit großen Augen anstarrend.
Obgleich kurz vor Schuberts Tod entstanden, ist es keine einseitig todbezogene Musik, umso deutlicher indes vor dem Raster verschiedener Zeitarten aufgespannt. Musik braucht nicht explizit von Vergänglichkeit und Tod zu reden – das besorgen Anlässe und Texte –, um von ihnen zu handeln. »Meditatio mortis« hat sie Adam von Fulda in einem um 1490 geschriebenen Traktat genannt, möglicherweise des ambivalenten Genitivs bewusst: Im Genitivus obiectivus meditiert sie über den Tod, im Genitivus subiectivus meditiert als Musik der Tod selbst.
In Schuberts Adagio singen drei Mittelstimmen in einem breitgezogenen Klangband und überwiegend kleinen Intervallschritten, fast wie in alten Motetten als Choral in Langmensur, die die Töne so sehr dehnt, dass man das Melodieganze kaum realisiert. Zudem wandert es von der Grundtonart, dem vornehmlich mit Verklärung verbundenen E-Dur, rasch nach Fis-, bald auch nach D-Dur. Leicht erfassbare Achtelschleifen verbinden die »Haltetöne«, geben den melodischen Fluss wie nach Stauungen frei und beziehen ihre Eindringlichkeit wesentlich daher, dass auch unsere Erwartungen auf Fortgang angestaut waren, die Linie unser Ohr in die Spannung zwischen Verweilenwollen und Weitermüssen eingebunden hat. Kaum halten wir ihren Riesenatem aus – umso weniger, als die erste Violine und das zweite Cello ein kleingliedriges Frage-und-Antwort-Spiel treiben, mithin zwei Zeitarten sich gegeneinander definieren, indem sie scheinbar wenig vermittelt nebeneinanderher laufen. Man könnte es eine approximative Verdeutlichung der antiken Begriffe »aion« (»Ewigkeit«) und »chronos« (»tickende« Zeitlichkeit) nennen.
Dass das Klangband und die erste Violine am Ende des ersten Teils einander antworten, den Abstand also verringern, hindert den explosiven Ausbruch aus der Spannung des Gegenübers nicht – ins Pandämonium eines Mittelteils mit hetzenden Sechzehnteltriolen, die einen |13| oktavierten, verzweifelt heulenden Gesang von erster Violine und erstem Cello vor sich hertreiben. Der kleine Sekundschritt, hier von e nach f, von der Verklärungstonart E-Dur ins düstere f-Moll – Schubert kannte ihn ähnlich aus Beethovens Streichquartetten op. 127 und 131 – hat sein Gewicht auch als Signatur der Nachbarschaft von seraphischer Schönheit und »des Schrecklichen Anfang«. Demgegenüber erscheinen Hinweise auf die Identität der Terztöne gis bzw. as und hier wie dort prägende Terzdurchgänge nahezu buchhalterisch. Beide Tonarten liegen mit vier Kreuzen bzw. vier Been entgegengesetzt gleich weit vom C-Dur der anderen Sätze entfernt. Noch das Ende des entfesselten Tobens, das mehrmals in leisen Passagen Kraft für den nächsten Ansturm sammelt, lädt die Beschreibung zu drastischer Bildlichkeit ein: Wie außer Atem gebracht, ermüdet es, stockt, röchelt, verlischt nahezu.
Am Echo vom Echo des letzten Seufzers rettet sich die Musik und findet zum ersten Teil zurück, in eine konvergierende Reprise insofern, als der »Choral« fast unbeirrt die alte Bahn zieht, die Phrasen im Dialog der Außenstimmen jedoch größer werden, zuweilen ineinandergreifen und den breitgedehnten Gesang der Mittelstimmen stellenweise heterophon umspielen. Wenn er »ppp« subdominantisch abtaucht, scheint die dialogisierende Arbeit getan, die Außenstimmen ziehen sich, punktierte Auftakte der Violine ausgenommen, ins Pizzicato und in eine Regelmäßigkeit zurück, die dem Choral stärker zugeordnet erscheint; ehe die erste Violine, nachdrücklicher schließend als vor dem f-Moll-Einbruch, zum Dolmetsch des Chorals wird – eben dort, wo Schubert in den Part der zweiten Violine das Trauer- und Todessignet des chromatischen Lamento-Abstiegs einträgt.
»Eigentlich kann ihr niemand widerstehen«, hat Louis-Ferdinand Céline von der Musik gesagt. »Was soll man denn mit seinem Herzen anfangen? – man verschenkt es gern und muß danach trachten, aus jeder Musik die ungeschriebene Weise, unsere Weise herauszuhören: das Lied vom Tod«. Wer so redet, setzt ein dichotomisches Verständnis von Tod und Leben voraus, dem Schubert im Quintett konsequent opponiert, indem er das Gegeneinander von selig singender Bejahung und schroffen Bedrohungen in allen Sätzen – Lehrstücken zum »Media vita in morte sumus« – immer neu und anders verfolgt. Die singenden |14| Passagen stellen sich als je nach Situation und Satzcharakter eigenständige Emanationen ein und desselben Grundhabitus dar – stets engschrittig um zentrale Töne gewundene Melodien: Niederschlag der alle Stationen durchwirkenden »poetischen Idee«, des Singens über Abgründen. Ebenso brutal, wie das f-Moll-Appassionato ins Quasi religioso des E-Dur-»Chorals« einbricht, wird im ersten Satz auf die Kantilene wie mit Keulen eingeschlagen, besonders am Ende; innerhalb der explosiven Vitalität des Finales, die zur Charakteristik »Sieg des Lebens« einlädt, zieht die Kantilene als erinnerungshafter Durchblick, eine Fata Morgana, am Horizont vorüber.
Die fast epilogische Handhabung am Schluss mag auch als Reaktion auf die radikalste verstanden werden: im Scherzo, dessen aggressiv anspringender Lebenslust ein Abstieg in katakombenhaftes Dunkel gegenübersteht, wie er so selten komponiert worden ist – im Trio, wo eher ländlerisch Diesseitiges zu erwarten wäre. Schubert zeichnet Des-Dur vor, schreibt jedoch ein absteigendes, zwischen f-Moll und As-Dur hangelndes Unisono, das als As-Dur-Skala auf g ankommen müsste. Jedoch landet es auf ges; die Überraschung steigert der hier im Trio erstmals erscheinende, zudem satte Dreiklang.
Es ist, als ob die Musik in ein Loch fiele. Recht nahe liegt der Vergleich mit anderen Stellen, wo die Unbegreiflichkeit des Todes durch Fortschreitungen verdeutlicht wird, die außerhalb alles Erwartbaren liegen, der Tonsatz allen Halt zu verlieren scheint – im »Moro, lasso« aus Gesualdos Sechstem Madrigalbuch ebenso wie im fast wie ein Moll-Akkord klingenden Ces-Dur-Quartsextakkord am Ende des vierten der »Vier letzten Lieder« von Richard Strauss. Schubert bekräftigt Schock und Untertext durch die nachfolgende Moll-Eintrübung, die noch tiefer ins Dunkel hineintreibt – so weit, dass er enharmonisch umnotieren muss: Nach der Des-Dur-Kadenz im achten Takt des zweiten Teils ist das notierte cis-Moll eigentlich ein des-Moll, vier Takte später nach der notierten H-Dur-, eigentlich einer Ces-Dur-Kadenz das notierte h-Moll ein ces-Moll. Was für ein Glück, dass Schubert es am Ende des zweiten Teils in Des-Dur plagal abfängt, den Rückweg aus dem fast unbetretbaren Land gerade noch findet!