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Verbotener Enquist »Das musst du nicht lesen, das verstehst du nicht.« Wollte sie »Kapitän Nemos Bibliothek« für sich haben, das ins tiefste Abseits verbrachte, ins U-Boot »Nautilus« eingeschlossene, in einen Höhlensee abgetauchte Gedächtnis, Bewahranstalt für all das, wovon die draußen nicht reden wollen und können?

Diese Bibliothek, abgesehen von Jules Verne, könnte ein Ableger des Weltbuchs sein, des »Liber …, in quo totum continetur«, woraus den aus Gräbern Aufgescheuchten am Tag des Zorns die Leviten gelesen, sie nach unten und oben sortiert werden; und Nemo, der gute Geist des Erzählers, der als Person kaum in Erscheinung tritt, nur einmal im Roman »Niemand« genannt, könnte ein Zwillingsbruder von dem sein, den Celans »Psalm« meint – »Gelobt seist du, Niemand«, ein Ableger des Menschensohnes, der immer, wenn er gebraucht wird, anderweitig zu tun hat: Gott überfordert oder auf Tauchstation, aber doch irgendwo vorhanden. Damit befände Enquist sich nicht weit von Nietzsches »tollem Menschen«: »›Wohin ist Gott?‹, rief er, ›ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich!‹«

»Könnte« – ein wichtiger Konjunktiv: Denn so sehr wir fürs Verstehen ausgreifender Bezugnahmen und Deutungen bedürfen, so übel spielen wir dem Roman mit, wenn wir bei ihnen, etwa auf die Biografie |54| des Autors blickend, zu früh ankommen, von ihnen her werten, Details zuordnen, als seien es Exemplifikationen. Bis hin zur Ungewissheit, wer da »ich« sagt, reicht Enquist uns mit biografischen Bezugsmöglichkeiten die Hand – sowohl im Geschriebenen als im überall durchscheinenden Umstand, dass er sich mit dem Buch aus einer Lebenskrise herausgeschrieben hat. Doch immer wieder und jäh springt er vom »protokollierenden«, auf pure Tatsächlichkeit gerichteten Erzählen in Passagen, bei denen wir ohne metaphorische Übersprünge schwer auskommen.

»Realistisches« Verständnis, aller Direktheit zum Trotz, scheitert oft, der Erzähler hält uns in der Schwebe zwischen Erklärenwollen und nicht -dürfen fest. Von Parabel ist das meilenweit entfernt, bestenfalls verspätet zum Beispiel lesen wir Vertauschung und Rücktausch der beiden Jungen als Allegorie Heidegger’scher Geworfenheit. Wie in Träumen verknäulen, widersprechen sich die Verstehensversuche. Der Roman beschwört Faktizität so handgreiflich, dass nicht nur die Katastrophen von Alfild und Eeva-Lisa, die in sich eingesperrte Josephine und die giftig-dumpfe Sprechunfähigkeit der Dörfler, die Einfahrt in die vulkanische Höhle, der Kapitän und die Bibliothek ganz und gar und nichts als wirklich sind, sondern auch der vom Floß stürzende, der sterbende Johannes, die als Katze wiederauferstehende Eeva-Lisa oder der mimisch bewegte Totenschädel ihres Kindes. Wie sehr erst der letzte, fast zum Epilog im Himmel mutierte Aufenthalt in der Grotte der toten Katzen! Was Enquist erzählt, sperrt sich gegen alle gleichnissüchtige Vereinnahmung.

Unseren Begriffen von Wirklichkeit tut es gut, dass Staunen und Fragen ihm bzw. dem Erzähler angesichts der Ereignisse nie ausgehen, er dringliche Orientierungen verweigert, dass die Sprache am Gemeinten oft wie an wattierten Wänden aufprallt, die Werkzeuge des Begreifens nicht greifen, einfachste Dinge wieder und wieder gesagt werden müssen. Verstehen heißt nicht nur einen Reim finden – den wir andererseits brauchen –, sondern auch zuordnen, wegfiltern, in Schubladen packen, Distanz schaffen. Das soll, auch anhand grauenhafter und grauenhaft duldsam hingenommener Ereignisse verhindert, Verstehen soll als – wie immer halbnotwendige – Schutzmaßnahme enttarnt werden, als Versuch, sich mit nachgeschobenen Erklärungen an realer Gegenwart |55| vorbeizumogeln. »Dichtung braucht nicht Fragen zu lösen, sie braucht sie nur dem Gefühle recht nahezubringen, ihnen die höchste, schmerzlichste Kraft der Fragwürdigkeit zu verleihen« (Thomas Mann).

Weshalb sollte ich’s nicht lesen? Vielleicht war es das Imbroglio der Realitätsebenen, vielleicht der allenthalben hervorbrechende Notschrei einer Welt mit einem nicht verlässlichen Himmel, die über sich mehr brauchte als einen Kapitän; vielleicht wollte sie mir eine schwer zu bestehende Lektüre ersparen? Vielleicht viel einfacher: Wie Johannes in der Bibliothek wollte sie mit dem Lese-Erlebnis allein bleiben, wollte es keinem Gerede aussetzen, auch nicht dem vertrautesten.

Musik und Abschied

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