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Bestanden

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Wir nannten ihn Buddha. Wenn jemand sagte, er habe Unterricht bei Buddha, bemitleidete man ihn. Buddha konnte nicht unterrichten. Alle sagten das. Kaum jemand nahm ihn ernst. Aber er lächelte. Selbst wenn jemand Unfug gemacht hatte, lächelte Buddha.

Ein halbes Jahr vor dem Abitur beschloss ich, einen Hebräisch-Kurs zu belegen. Einziger Hebräisch-Lehrer an der Schule war Buddha. Ich spürte den unverhohlenen Spott meiner Mitschüler. Dennoch fragte ich bei ihm an, ob es noch möglich sei, am Hebräisch-Kurs teil-zunehmen. Buddha lächelte. Wenn ich bereit sei, wöchentlich mindestens zwei Mal mit ihm Hebräisch zu pauken, könnte ich das schaffen.

Nach dem Unterricht blieb ich in der Schule, weil Buddha für mich in der Schule blieb. Er packte sein Butterbrot aus; ich kramte meine Stulle aus der Tasche. Manchmal aß ich sein Käse-, er mein Wurstbrot. Wir kauten und buchstabierten das hebräische Alphabet. Ich lernte die hebräische Bibel lesen und wusste bald, dass „Tohuwabohu“ am Anfang der Schöpfungsgeschichte steht. „Die Erde war wüst und leer.“ Zuerst fühlte ich mich auch so. Aber Buddha weckte mein Interesse, die Leere zu füllen.

Die Abiturprüfungen liefen in einem anderen Rahmen ab als heute. Jeder Abiturient musste nach der schriftlichen auch in die mündliche Prüfung. Das Schicksal entschied sich gegen mich. Ich musste ins Hebräische. Buddha sah mich untröstlich. Aber er lächelte. Das würde ich schaffen, sagte er. Ein langer Text wurde mir im Vorbereitungsraum zum Übersetzen vorgelegt. Schon weil er lang war, schien ich chancenlos zu sein.

Dann holte Buddha mich zur Prüfung ab. Lächelnd bemerkte er, wie ich mich fühlte. Kurz vor der Tür zum Prüfungsraum blieb er stehen und sagte: „Wenn du gleich die vielen Lehrer siehst, die uns zuhören, dann denk daran: Nur zwei Leute verstehen Hebräisch, du und ich.“

Hebräisch war mein Lieblingsfach. Ich hatte „bestanden“.

Die örtliche Tagespresse würdigte auf folgende Weise, dass sechzig junge Leute das Abitur geschafft hatten:

Sechzig Heranwachsende wurden verabschie-det. Abschied von der Schule. Das heißt, sie verabschiedeten sich selbst. Denn wenn ihre Antworten nicht genügt hätten, wäre ihnen der Abschied erspart geblieben. Aber obwohl neun Jahre eine Gewöhnungszeit sind, die es – nach dem Gesetz der Trägheit – schwer macht, sich vom Routinegang zum Gymnasium zu lösen, haben alle sechzig wie befreit aufgeatmet, als man sie mit dem Wort „bestanden“ entließ.

Entlassung bedeutet nicht nur Abschied von einer liebgewordenen Schule, sie bedeutet einen Sieg: Den Sieg des Wissens über die Tücken menschlicher Ungenügsamkeit wie über die Klippen der Prüfung. Sie bedeutet das erfolgreiche Ende eines Lebensabschnitts, und das ist noch wichtiger als das gesammelte Wissen; denn von dem „Universalwissen“ wird nach zwanzig, dreißig Jahren nur ein Teil übriggeblieben sein. Nicht zu Unrecht heißt die Prüfung „Reifeprüfung“ – als reife Menschen ins Leben gehen, die Reife mehren zum Wohle der Menschen und zum eigenen Nutzen, das ist der größere Sinn der Abschiedsstunde.

Noch sind die ersten Tage inhaltsleer. Man weiß noch nicht recht, wo man hingehört. Die freie Zeit hat etwas überraschend Rätselhaftes an sich. Aber schon bald gehen die ersten in einen Beruf, in ein Geschäft, an die Universität oder leisten ihre Wehrpflicht ab. Ein zweiter Abschied steht bevor, der erste große Abschied von zuhause. Der Glücksrausch geht schnell vorüber, dem Sieg folgt ein neuer Kampf, diesmal schwerer als der erste, weil die Obhut der Schule und des Elternhauses zurücktritt.

Zum Erfolg sagen wir den Jungen wie den Eltern herzlichen Glückwunsch, zum neuen Kampf und zu den neuen Opfern ein herzliches Glückauf.

Ein Glückwunsch an Buddha stand nicht im Bericht. Er hätte ihn verdient gehabt.

Du lieber Himmel

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