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Müssen oder nicht müssen
ОглавлениеMust-haves werden mir empfohlen. Muss ich haben, sagt man. Zum täglichen Bedarf gehö-ren sie nicht, aber das werde sich ändern, wird behauptet. Notwendig sollen sie sein. Vielleicht lebensnotwendig. Mit einem Minimum an Kenntnis kann ich ein Maximum an Must-haves erwerben. Mögen sie noch so unnütz erscheinen, mit ihnen soll ich Großes erreichen.
Meistens habe ich mich gegen die Versuchung gewehrt, etwas haben zu müssen, was ich nicht brauche. Ermutigungsreden solcher und anderer Art habe ich widerstanden – auch dann, wenn Must-haves zur Hälfte vom üblichen Preis angeboten wurden oder sie nichts bis gar nichts kosteten. Versuchungen müsse ich nachgeben, werde ich belehrt. Man könne nicht wissen, ob sie wiederkämen.
Dennoch handelte ich nicht entsprechend und ließ mich nicht aus der Reserve locken. Ehe ich an Neues dachte, überlegte ich, wofür es von Nutzen sein könne. Dass es der Verwirklichung meines Lebensglücks diene, konnte ich nicht festzustellen. Must-have? Meistens entschied ich für No-must-have.
Dann entdeckte ich Karl Valentin: „Mögen hätt' ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut.“ Ich war verunsichert und sah mich entlarvt. Musste ich meine Apathie über-winden? Irgendetwas in mir versuchte Träume zu erzeugen. Mein Auto fuhr noch. Allerdings: So, wie es fuhr, konnte ich es nicht fahren nennen. Es bewegte sich, wenn ich es auffor-derte. Es blieb stehen, wenn ich es nicht aufforderte. Erwartung und Wirklichkeit passten nicht zusammen. Mein Auto war nicht verlässlich, obwohl ich mich darauf verließ.
Sie brauchen ein neues Auto, sagte der Mann in der Werkstatt. Must-have. Bisher war ich mit ihm zufrieden, erwiderte ich. Es bleibt manch-mal stehen. Aber es hat verlässliche Seiten, obwohl sie überschaubar sind. Die Litanei der Schikanen ist lang. Ob ich zufrieden bin mit einem anderen Auto, weiß ich nicht.
Der Mann in der Werkstatt zuckte mit den Schultern. Must-have, konstatierte er. Er wusste, wie man einen Kunden überzeugt, der mit sich ringt. Ich müsse mich entscheiden, drängte er mich. Must-have oder nicht Must-have. Haben müssen oder nicht haben müssen. Beides zusammen sei nicht möglich. Ich müsse das Auto loslassen, fügte er hinzu. Loslassen sei kein Zeichen von Schwäche. Loslassen müsse man, was nicht zu halten sei. Meine Verweigerungshaltung müsse ich aufgeben, von Rückzugsgefechten Abstand nehmen.
Verlustbewältigungs-Strategien würden mir helfen. Mein altes Auto müsse ich nicht ver-gessen. Immer sei ich damit zu ihm gekommen. Das rechne er mir hoch an. Das Auto habe uns zu Freunden gemacht, für immer. Auch wenn ich mein Auto losließe, blieben wir Freunde. Er besorge mir ein Auto, das ich haben müsse.
Er hielt eine Leichenrede auf mein Auto, von dem ich mich nicht trennen wollte. Es war bequem, ein richtiges Auto zu fahren. Daheim einsteigen, am Ziel aussteigen. Must-have. Aber wie oft war ich eingestiegen, um irgend-wo auszusteigen? Nicht oft. Must-have? Mein Leben hängt nicht vom Auto ab.
Der Mann in der Werkstatt durchschaute mich. Er las meine Gedanken nicht zum ersten Mal. Seit Jahren versuchte er mich davon zu über-zeugen, dass ich ein neues Auto haben müsse. Bei jedem Werkstatt-Besuch der gleiche Wort-wechsel: Ich müsse ein anderes Auto haben. Must have. Es gibt keine schlechten Autos, beteuerte er, sondern nur Autos, die nicht mehr richtig fahren. Ein Warnsignal. Daher solle ich mich am Markt der vielen Möglichkeiten bedienen. Nie sei es einfacher als jetzt. Ich müsse mich befreien von alten Denkmustern und Bedürfnisse befriedigen.
Meine Einsicht wuchs von Jahr zu Jahr. Taten sollten folgen. Der Rechtfertigungsdruck nahm zu. Weiter als zur Werkstatt kam ich selten mit meinem Auto. Die befindet sich direkt neben meiner Garage. Bis dahin schaffe ich es. Muss ich ein neues Auto haben?
Der Mann wollte mich nicht gefügig machen, sondern überzeugen, einen Sinneswandel bei mir bewirken. Nie überschätzte er meine Möglichkeiten. Die Gespräche verliefen harmonisch. Brandreden führten wir nie. Er drängte mir nicht seine Wertmaßstäbe auf. Ich bewunderte den Einfallsreichtum, mit dem er mich zu überzeugen suchte.
In spätestens einem Jahr sei es so weit, sagte er jedes Mal. Dann sei die Zeit reif für eine Ent-scheidung, reif für Must have.
Im kommenden Jahr sehen wir uns wieder.