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2.2 Was bedeutet »Privatheit«?

2.2.1 Geschichtlicher Hintergrund

Der Begriff ›privat‹ leitet sich vom lateinischen Adjektiv privatus ab, das in der Übersetzung ›der Herrschaft beraubt, gesondert, für sich stehend‹ bedeutet und damit die Trennung von der öffentlichen Sphäre (vom Staat) meint. Diese ursprünglich abwertende Wortbedeutung des Privaten findet seine Wurzeln im antiken griechischen Stadtstaat, der Polis. Hier wurden Frauen, Sklaven und Unfreie in den privaten Raum verwiesen, einen Raum, der der Herrschaft beraubt, also unterworfen ist. Das öffentliche Leben fand hingegen auf der Agora, dem Marktplatz, statt und galt als Ort der Freiheit, wo das Handeln – als im weitesten Sinne politische und somit höchste aller Tätigkeiten – vor den Einflüssen des Privaten zu schützen war.

Erst im Ausgang des 18. Jahrhunderts und im Laufe des 19. Jahrhunderts, infolge der bürgerlichen Emanzipation und der Ausbildung moderner industriekapitalistischer Nationalstaaten, erhielt der Schutz der Privatsphäre einen hohen Wert. Durch die Entstehung eines von der Staatsgewalt unabhängigen Marktes und der Herausbildung einer mit Rechten ausgestatteten Bürgerschaft konnte die Feudalherrschaft überwunden werden. Eine Trennung in eine bürgerliche Öffentlichkeit – die politische Sphäre (ähnlich dem antiken Öffentlichkeitsbegriff) – und einen geschützten privaten Bereich, wie sie unter einem Lehnsherrn nicht möglich war, konstituierte sich. Zudem entwickelte sich die Vorstellung vom öffentlichen Raum als Gemeineigentum, wozu auch die Entstehung von Städten und Handelszentren beitrug. Die Lebensbedingungen der Bürger veränderten sich grundlegend von vertrauten sozialen Milieus hin zu einem Zusammenleben unter Fremden, in dem je nach funktionalem Zusammenhang differenzierte zwischenmenschliche Beziehungen eingegangen werden.

Wenngleich die Wertzuschreibung des Privaten im historischen Verlauf variiert: Das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem wurde in den verschiedenen Weltmodellen immer als streng zweigeteilt bzw. dualistisch (gegensätzlich) eingestuft. Dies kann als »ideengeschichtliche Tiefenwirkung«12, also als historische Grundidee begründet werden, die seit der Aufklärung und deren Rückbezug auf die Antike und das aristotelische Politikverständnis bis heute präsent ist. Im alltäglichen Sprachgebrauch spiegelt sich dieses Ideenkonzept wider, indem »privat« meist in Opposition zu »öffentlich« verwendet wird. Doch so eindeutig, wie es scheint, ist diese Trennung nicht.

2.2.2 Definition und Verständnis des Privaten

Die Frage »Was ist privat?« sollte sich jeder einmal in Ruhe selbst stellen. Welche Beispiele fallen einem hierzu ein?

Mögliche Antworten könnten sein: meine Adresse, meine Telefonnummer, mein Handy, mein Gesundheitszustand, meine finanzielle Situation, meine Wohnung, meine Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung und vieles mehr. Daraus ist bereits ersichtlich, dass Privates in vielerlei Hinsicht eine Rolle spielt: Nicht nur Räume oder Orte können privat sein, sondern auch Informationen, Einstellungen, Handlungen, Situationen, Gefühle, mentale oder körperliche Zustände, Gedanken und Gegenstände. Die Philosophin Beate Rössler unterscheidet drei Dimensionen: Privatheit lässt sich nicht nur in räumlicher, sondern auch in dezisionaler, d. h. die Entscheidungen betreffender und in informationeller Hinsicht verstehen.13

In räumlicher Hinsicht kann man sich die Verwendungsweisen von »öffentlich« und »privat« wie die Schichten einer Zwiebel vorstellen (vgl. Abb. 1). Im Innersten liegt der Bereich der persönlichen (körperlichen) Intimität und Privatheit, im Vergleich zu der alles andere öffentlich ist. Die zweite Schicht ist die des klassischen Privatbereichs, also die Familie oder andere intime Beziehungen. Repräsentiert wird die Privatsphäre hier meist durch private Räume wie die Wohnung. Auch mit Freunden wird Privates ausgetauscht. Die äußerste Schicht ist dann die des gesellschaftlichen und staatlichen Außenbereichs, der Öffentlichkeit. Bezogen auf Handlungen oder Entscheidungen kann man aber auch in der Öffentlichkeit »privat« sein: Ob ich zu einer Demonstration oder in die Kirche gehe, ist ebenso meine Privatsache wie das Gespräch, das ich mit einem Freund im Café führe. Privates Wissen bzw. private Informationen können z. B. meine politische Einstellung, mein Gesundheitszustand oder meine Partnerschaft sein. Das heißt: »Privat« können sowohl Räume, Handlungen und Verhaltensweisen sowie ein bestimmtes Wissen sein.


Abb. 1: Zwiebelmodell: Ebenen der Privatheit

Privatheit wird in vielen Kulturen als ein gesellschaftlich wichtiges Schutzgut angesehen, auch wenn die Definition dessen, was als privat schützenswert ist, kulturell, historisch und kontextbezogen variiert. Weitgehend Konsens besteht darüber, dass der Begriff »Privatheit« vor allem bedeutet, das ›etwas‹ einer Person (z. B. Wohnung, Informationen, Handlungen, Entscheidungen) vor dem Zugang anderer bzw. Zugriff durch andere zu schützen. Es geht also um die Kontrolle, die eine Person darüber haben sollte, wer wann in welchem Maße und in welchem Zusammenhang auf etwas zugreift, das zu dieser Person gehört: »[A]ls privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ›etwas‹ kontrollieren kann.«14 Ein weiteres Kriterium für Privatheit besagt, dass sie vom Kontext abhängt, also kontextrelevant ist.15 Zum Beispiel wird eine Person einem Banker nicht dieselben privaten Informationen wie einem Arzt erzählen: Abhängig von den jeweiligen Lebenssphären und Funktionszusammenhängen unterscheiden wir, wem wir welche privaten Informationen zukommen lassen.

Nach dem Ethiker Jeroen van den Hoven lassen sich Informationen als »soziale Güter« verstehen.16 Um Privatheit kontextuell zu sichern, sollte demnach der Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Sphären der Gesellschaft (z. B. der medizinischen, rechtlichen, politischen, kommerziellen oder familiären Sphäre) blockiert werden. Die Informationen sollten innerhalb einer Sphäre versiegelt und nicht mit den Informationen aus einer anderen Sphäre vermischt werden. Die Privatheit wird verletzt, wenn die Grenzen der Sphären und des Zugangs nicht respektiert werden. Beispielhaft hierfür ist das Anliegen von Facebook, auf Bankdaten seiner Nutzer zugreifen zu können. So berichtet das Wall Street Journal, dass Facebook den US-Banken vorgeschlagen habe, Kontoinformationen einschließlich Kartentransaktionen und Kontobeständen auszutauschen. Die Nutzer könnten dann im Facebook Messenger auf ihre eigenen Kontoinformationen zugreifen und würden länger bei Facebook verweilen. Im Gegenzug könnten die Banken von den bei Facebook gesammelten Daten der Nutzer profitieren, um diesen gezieltere Angebote machen zu können.17 Für die Nutzer bzw. Kunden hieße dies aber, dass ein massiver Eingriff in ihre Privatsphäre erfolgt und ihre finanziellen Informationen mit allen Facebook zur Verfügung stehenden Daten verknüpft werden.

2.2.3 Privatheit als Grundrecht

Wenngleich es zahlreiche Indizien für eine Krise der Privatheit gibt, besteht in den Theorien über das Private weitgehend Konsens darüber, Privatheit als Wert und kulturelle Errungenschaft einzustufen, da sie eng mit dem Menschenbild der Moderne eines autonomen, freien und gleichberechtigten Subjekts verschmolzen ist. So meint der Informationsethiker Rainer Kuhlen, dass trotz vorhandener Relativierungstendenzen der Wert der Privatheit weiterhin sehr hoch eingeschätzt wird und gar als Menschenrecht gilt: »Privatheit gehört zweifellos zu den Menschenrechten, zum kodifizierten Bestand der grundlegenden Rechte und Freiheiten aller Menschen.«18

Die Bedeutung der Privatsphäre für eine liberal-demokratische Gesellschaft spiegelt sich auch in ihren Gesetzen. In Deutschland ist der Schutz der Privatsphäre ein Grundrecht und wird im Grundgesetz aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), dem Recht auf Achtung und freie Entfaltung der Persönlichkeit, abgeleitet. Dem Einzelnen soll dadurch ein geschützter Bereich vorbehalten sein, in dem er sich frei und ungezwungen verhalten kann, ohne beobachtet oder abgehört zu werden. Konkretisiert wird dies z. B. durch das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) und das Brief- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG). Auch die anderen Individualgrundrechte schützen immer auch die Privatheit bzw. erfordern vice versa ein grundlegendes Recht auf eine Privatsphäre: z. B. das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG), die Glaubensfreiheit (Art. 4 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Schutz der Familie (Art. 6 GG) oder die Berufswahl nach eigenen Vorstellungen (Art. 12 GG). Der Eigenwert der Privatsphäre als Grundrecht des Menschen dokumentiert sich auch in der Resolution 217 A (III) der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, in Artikel 12 zur »Freiheitssphäre des Einzelnen« in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

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