Читать книгу Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten - Petra Grimm - Страница 15

3.2 Pest und/oder Cholera?

Оглавление

Die Ausrichtung des Datenschutzes zielt einerseits auf den Staat (Überwachung) und andererseits auf Unternehmen (wirtschaftliche Verwertung der Daten). Man kann überlegen, ob von der einen oder der anderen Dimension die größere Gefahr droht und welche daher intensiver zu regulieren ist. Mit Blick auf staatliche Überwachung und ihren Bezug zum damit verfolgten Schutzzweck der (inneren) Sicherheit lässt sich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anstellen. Überwachung muss auf das zur Erfüllung des Schutzzwecks zwingend erforderliche Maß beschränkt werden und lässt sich leichter in einem System legitimieren, das rechtsstaatliche Kontrollmechanismen vorsieht. Dass die Existenz eines rechtsstaatlichen Umfelds und ein ursprünglich legitimer Zweck für die Datenerhebung allein keine verlässlichen Garantien gegen staatliche Übergriffe geben, folgt aus dem Umstand, dass sich Verarbeitungskontext und die zu Grunde liegenden Verhältnisse jederzeit ändern können. Greifbar wird dies im folgenden historischen Beispiel:28

Im Jahr 1850 beginnt man in der Stadt Amsterdam, systematisch Daten über die Einwohner zu erheben. Im »Bevolkingsregister« werden Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Familienort, Beruf, Religion, Umzug und Todesdatum eines jeden Bewohners der Stadt geführt. Ziel der Datensammlung ist es, die Stadtplanung zu optimieren und die Verteilung der Ressourcen bestmöglich auf die individuellen Bedürfnisse der Einwohner zuzuschneiden. 1940 fällt das »Bevolkingsregister« in die Hand der einmarschierten deutschen Truppen. Innerhalb kurzer Zeit werden auf dieser Grundlage die jüdischen Einwohner der Stadt ermittelt. Ein großer Teil von ihnen wird in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Von den rund 80 000 Amsterdamer Juden vor Beginn der deutschen Besatzung überleben nur 10 000 Menschen den Krieg.

Strukturell lässt sich das skizzierte, mit Aktionen des Staates verbundene Missbrauchspotenzial nicht unmittelbar auf private Akteure (Unternehmen) übertragen. Google, Facebook, Amazon oder sonstige unsere Daten verarbeitende, nicht öffentliche Stellen können uns nicht auf Grundlage ihrer Erkenntnisse direkt ins Gefängnis werfen. Man wird auch der Datenverarbeitung im Rahmen eines Bestellvorgangs etwa auf der Online-Plattform des Versandhauses Otto in der Regel kein allzu hohes datenschutzrechtliches Risiko beimessen. Das sieht aber schon ganz anders aus, wenn das Unternehmen über besondere wirtschaftliche oder soziale Macht verfügt. Eine monopolartige Stellung kann zu Machtasymmetrien im Verhältnis zwischen Unternehmen und Kunden führen. Eine solche Machtasymmetrie kann durchaus mit dem Subordinationsverhältnis zwischen Bürger und Staat vergleichbar sein. Auch ist es für Privatmenschen der Sache nach leichter als für den Staat, in höchstpersönliche Bereiche vorzudringen. Die Vernetzung und der Datenaustausch zwischen Geräten, Plattformen, Anwendungen und Diensten reicht weit: Wenn der smarte Staubsaugerroboter die Wohnung seines Besitzers kartographiert, erfolgt dies zunächst, um seine ordnungsgemäße Funktion sicherzustellen. Werden die so erstellten Wohnungspläne ohne Zustimmung des Betroffenen an Dritte veräußert, tangiert das nicht nur dessen Privatsphäre. Das Verhältnis zwischen Betroffenem und Staubsaugerhersteller ist außerdem ungleichgewichtig bzw. asymmetrisch, weil sich der Hersteller den in den Daten liegenden wirtschaftlichen Wert (nur) einseitig zuweist. Kritiker sprechen von Überwachungskapitalismus.29

Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

Подняться наверх